: Singen statt rauchen
Einmal Weihnachten, hin und zurück: In Lübeck scheint die Sonne, die Eltern sind super und ein bisschen schüchtern, und auf der Rückfahrt klötert im Speisewagen melancholisch das Geschirr
VON DETLEF KUHLBRODT
Beim Bäcker in der Markthalle sagt die Verkäuferin schmunzelnd: „Ihr Geld ist ja so kalt!“ In der Buchhandlung „Loriots kleiner Ratgeber“ gekauft. Das passt immer. Bei „Arrat“ in der Bergmannstraße lächelt der Dalai Lama ganz groß in 3 D. Später wandere ich unschlüssig eine halbe Stunde in einem Hippieladen herum. „Kann ich das auch für fünf Euro kriegen?“ – „Klar, weil Weihnachten ist.“
An der Kirche am Südstern hängt ein Plakat: „Familiengottesdienst: Schlafen können Sie woanders.“ Es regnet. Im amerikanischen Steakhaus „Diner’s“ was essen. In dem einen Fernseher guckt Rudi Völler sympathisch-melancholisch. Die Leute in dem Schokoladen- und Süßigkeitenladen in der Zossener Straße wirken verzweifelt, unschlüssig. Einer sagt: „Geben Sie mir irgendwas.“ Zu Hause Fernsehen. Am Ende der uralten Simpsons-Episode sagt der Bürgermeister: „Des Weiteren verfüge ich, dass alles beim Alten bleibt.“ Mr. Bean hüpft lustig auf einem Hotelbett herum. Die „Abendschau“ berichtet über Rudi Dutschke: „Er kam an die Freie Universität und wurde Studentenführer.“
M. sagt, dass er zuletzt vor 25 Jahren mit seinen Eltern Weihnachten gefeiert hat und dass die Kinder in der Kirche während des Gottesdienstes immer gehustet hätten; vor Aufregung und weil es in der Kirche so kalt war. Ob ich Lust hätte, noch zum Flippern mitzukommen? – Nö. K. gibt per SMS die Geburt ihres Kindes bekannt: „Rocky ist da.“
24. 12. Treffe H., die mich nach Hamburg mitnehmen will, beim Bäcker. Sie ist auch ganz nervös. Irgendwie stolz darauf, wie akkurat das Zimmer meine Festtagsstimmung widerspiegelt. Ich schütte meine Fußballtasche aus und tue die Geschenke rein. Im Auto wird nicht geraucht. Früher wäre das doof gewesen. Unklar, ob wir Opfer der Antiraucherkampagnen sind oder einfach nur älter. Trotzdem denke ich immer in Zigarettenpackungspreisen. Zumindest in Stresssituationen. Das führt dazu, dass alles sofort billiger wirkt, wenn die Zigarettenpreise steigen. Diese Badekugeln von „Lush“ zum Beispiel. Dabei fällt mir dann ein, dass ich die bunten Badekugelgeschenke „Think Pink“, „Sakura“ und „Tisty Tosty“ im Badezimmer vergessen habe.
H. ist Titanic-Abonnentin und hat das Heft für mich mitgenommen. Ob die wohl einen Prozess kriegen, weil in einem Text Stoiber als Vorsitzender des bayrischen Faschistenverbandes – fungiert? Äh. Ich lese die Sachen, die sie am besten findet, als Letztes und lache hysterisch über einen schweinischen Rattelschneckcartoon. Weihnachtsverzweifelte Gespräche.
Kaffeetrinken in der letzten Brandenburger Raststätte vor Hamburg. Rauchend machen wir abschätzige Bemerkungen über die minolfarbenen Vorhänge hier. Die Bild-Weihnachtsausgabe ist arg misslungen, der Kaffee schlecht und teuer, und außerdem findet H., dass es sehr krank aussieht, wie die da rauchen. Verglichen mit Hamburg wirkt Berlin ja immer etwas schrottig.
Superschön, mit der Regionalbahn über Oldesloe nach Lübeck zu fahren. Die Regentropfen, die der Fahrtwind über die Scheibe treibt, und im Hintergrund die Felder mit den Windrädern. Ich fahre schwarz, weil der Zug da schon stand. Niemand kontrolliert. Ich mag die Bahn wieder gern. Dann scheint die Sonne. In Lübeck blockiert ein Bus den unsrigen. Der Busfahrer sagt zu einem anderen: „Wat sachst du zu ihm, dó, der hat doch aua.“
An der Haustür meiner Schwester hängt ein Zettel: „Wir sind in der Kirche.“ Jeder bekommt zusammengeheftete Blätter mit Weihnachtsliedern. Vor dem Singen erkläre ich, dass ich nie mitsinge. Komischerweise singe ich dann doch mit und hab dabei nicht das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. O. brilliert mit originellen Geschenken. Ich bekomme z. B. eine Fliegentotschießpistole. Später Kartoffelsalat und Gesellschaftsspiele. „Rushhour“ und „Uno extrem“. In der Nacht kann ich nicht schlafen, stehe um drei noch einmal auf und rauche vor der Haustür. Drinnen geht das Licht an. Da steht meine größere Nichte mit ihrer Freundin. Sie wollen noch in die Disco. Ich bin stolz auf sie, auch darauf, dass sie am nächsten Morgen so fit ist.
25. 12. Schönes Essen bei den Eltern in Segeberg. Überraschenderweise geht die Welt nicht unter, wenn man nicht raucht. Im Garten steht das rostig-bunte Gerüst der Schaukel, die mein Vater vor vierzig Jahren für uns Kinder geschweißt hat. Die Eltern sind super und ein bisschen schüchtern. Mein Bruder hat den Eltern ein Lebkuchenhaus gebaut, und um zu beweisen, dass er es wirklich war, ein Making-of-Video gedreht.
Manchmal gehen wir spazieren, und meine Mutter erzählt von 45; damals, als sie in die Stadt kam. Eine sympathisierende Katze begleitet uns eine Weile. Von weitem hört man Russlanddeutsche lärmen. In der Segeberger Zeitung steht, dass örtliche CDUler am 31. 12. als Schornsteinfeger verkleidet auf dem Marktplatz Glücks-Cents verteilen würden. Meine Mutter redet viel, mein Vater und ich eher wenig.
26. 12. Wegfahrwehmut. Draußen ist Winter. Die Sonne scheint in die Regionalbahn. Die Felder sehen so schön aus. Niemand kontrolliert. Heide Simonis ist auch klasse. „Tschüs und auf Wiedersehen sagt die Nordbahn“, sagt die Nordbahn. Der IC nach Berlin fährt nach Prag. Die tschechischen Züge sind ausgesprochen geschmackssicher. Die Speisewagen zum Beispiel, in denen man auch rauchen kann. Der Kellner hat eine lustige Nase wie Lolek oder Bolek und trägt eine hübsche Kellnerweste. „Kaffee Vindobona“. Melancholisch klötert das Geschirr.
In Berlin wünscht mir der türkische Bäcker „noch ein schönes Wochenende“ und, als ich schon fast wieder draußen bin, „Frohe Weihnachten“. Ich weiß nicht, was ich erwidern soll. Ein „frohe Weihnachten“ meinerseits könnte ihn vielleicht in seinen religiösen Gefühlen verletzen. So murmele ich etwas Zustimmendes. Letztes Jahr war noch wertneutral von einem „schönen Feiertag“ die Rede.
Zu Hause erzählt H. von einem Bekannten, der Weihnachten immer bei den Eltern seiner Exfreundin feiert. Dann Loriot geguckt. Viel gelacht: „Es saugt und bläst der Heinzelmann, wo Mutti sonst nur blasen kann.“ Dann rauche ich was, höre fünfmal „American Pie“ in der Version von Madonna, singe laut mit und bin sehr wehmütig.