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Archiv-Artikel

Das Gesicht der Scharia

Islamismus: Der Genfer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan ist der erste Popstar des Euroislam. Doch nun eskaliert der Streit um den Undurchschaubaren: Ist er der lange ersehnte Modernisierer oder das Trojanische Pferd des Dschihad in Europa?

Die islamische Spiritualität ist für ihn eine Gegenkraft zum westlichen Konsumismus. Gesprächspartner sucht er auf der politischen Linken

VON ROBERT MISIK

Der Mann hat schon rein äußerlich gar nichts von einem islamistischen Fanatiker. Er ist feingliedrig, und wenn er spricht, macht er diese typischen, etwas zu ausladenden, etwas zu eitlen Gesten, die man von so vielen französischen Medienintellektuellen kennt. Immer trägt er einen sorgsam gestutzten Dreitagebart und unter dem schwarzen Anzug ein offenes Hemd, gern eines dieser modischen kragenlosen, die ein bisschen nach iranischer Revolution, ein bisschen nach Mao Tse-tung aussehen. Kurzum: Tariq Ramadan ist stilbewusst. Er ist, wenn man so will, der erste Popstar des Euroislam. Unermüdlich schreibt der Professor für Islamwissenschaften im Schweizer Freiburg Artikel und Bücher, seine Vorträge werden auf Audiokassetten aufgenommen und pro Jahr 50.000-fach verkauft. In Frankreich und der Schweiz ist er in TV-Debatten fix gebuchter Gast. Schon hat ihn jemand den „Haider der Moslems“ genannt. Das US-Magazin Time reiht ihn unter die hundert einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt.

Sein Ziel sei es, sagt Ramadan, ein Modell für „einen europäischen Islam“ zu entwickeln, seine Leute dazu zu bringen, ihr Ghetto zu verlassen und aktive Bürger zu werden. Es geht ihm um eine Identität, die „wahrhaft muslimisch und wahrhaft westlich zugleich ist“. Diese Identität entstehe gerade, ist Ramadan überzeugt, es ist eine „stille Revolution“ im Gang, die nur niemand wahrnehme, weil alle vom Zusammenprall der Kulturen besessen sind. Tariq Ramadan ist also, so sehen es die einen, das Versprechen auf Modernisierung des Islam.

Für seine Antipoden dagegen ist er ein doppelzüngiger Islamist, der in Wahrheit in den Moscheen die jungen Leute aufhetzt, das „charmante Gesicht der Scharia“ oder einfach „der Mann, der in Frankreich den Islamismus einführen will“, wie das vergangenen Monat der Pariser L’Express von seinem Titelblatt proklamierte – „kein Bombenleger, aber einer, der ausgesprochen schädliche Ideen legt“.

In jedem Fall also ist er einer, der die Geister scheidet. Er ist der Star der jungen, sinnsuchenden muslimischen Jugendlichen, die mit der Kultur ihrer Großväter nichts zu tun haben, aber auch in den säkularen Rechtsstaaten Europas nicht angekommen sind, und die sich in einem virtuellen, puritanischen Islam verpuppen. Er ist ein eloquenter Debattierer, mit dem man immerhin reden, in einen Dialog kommen kann – und der es gleichzeitig nicht einmal über sich bringt, sich in klaren Worten gegen die Steinigung von Frauen auszusprechen.

„Einem Seiltänzer ähnlich schreitet er voran, zur ewigen Flucht verdammt“, schreibt Gilles Kepel, der französische Islamismusexperte in seinem jüngsten Buch „Die neuen Kreuzzüge“. Es ist etwas elektrisierend Undurchschaubares an Ramadan, und zur Faszination, die von ihm ausgeht, trägt seine Familien- und Lebensgeschichte wesentlich bei. Sein Großvater, der Ägypter Hassan al-Banna, gilt als der unumstrittene Säulenheilige aller modernen Islamisten – er hat 1928 die Ichwan gegründet, die ägyptische Muslimbrüderschaft, die Urzelle jedes radikalen Islamismus. Seine Tochter verheiratete al-Banna mit seinem Lieblingsschüler Said Ramadan. Als Nasser die Muslimbrüderschaft zerschlug und verfolgen lässt, geht Ramadan erst nach Saudi-Arabien, dann in die Schweiz ins Exil, wo er ein islamisches Zentrum gründet. Seine Söhne Hani und Tariq treten in seine Fußstapfen. Heute sind sie halb Antipoden, halb kongeniale Partner: Hani der radikale, düstere Dschihad-Apologet, Tariq der Islamismusmodernisierer mit Popstar-Aura. „Tariq und ich, wir sind zwei Seiten derselben Medaille“, bemerkte Hani Ramadan 1998 in einem Interview – ein Zitat, das seinem Bruder seither immer wieder um die Ohren gehauen wird.

Worum es Tariq Ramadan zu tun ist, darin zumindest besteht kein Zweifel, ist, dass die muslimischen Zuwanderer endlich in Europa ankommen. „Ich sage ihnen, dass sie nicht weniger muslimisch werden müssen, um mehr europäisch zu werden.“ Die Einwanderer-Communautés hätten sich abgegrenzt, und darum sei auch die Lektüre des Korans eingefärbt von einer Wagenburgmentalität. Ramadan plädiert für Selbstbewusstsein. Traditionalismus und Denkverbote sind ihm ein Gräuel. Der Islam brauche, sowohl in den muslimischen Ländern als auch in der Zuwandererdiaspora „pluralistischere Gesellschaften und mehr politische Debatten“. Jahrhundertelang waren verschiedene islamische Traditionen akzeptiert – streng Schriftgläubige, Sufis, Modernisierer usw. –, woraus Ramadan ableitet, dass es eine islamische Geschichte freier Debatte längst gibt, die heute allerdings verschüttet ist.

Klingt schön, ist aber Camouflage, ist jetzt zunehmend ungeduldig zu vernehmen. Ramadan ist „nicht nur der Enkel des Gründers der Muslimbrüder, er ist sein wahrer, luzider und methodischer Erbe“, proklamiert Bernard-Henri Lévy, der Wortführer des Pariser Philosophenchic. Der Beau mit dem Gesicht eines Wüstenprinzen klammere sich an jedes islamistische Dogma, urteilt die Journalistin Caroline Fourest, deren Enthüllungsbuch „Frère Tariq“ („Bruder Tariq“) vergangenes Monat erschien und für das sie sich durch Berge von Ramadan-Kassetten durchgehört hat. Ihre Bestandsaufnahme: Ramadan predigt den jungen Muslimen nur, „die Verfassung zu akzeptieren, solange sie gegen kein islamisches Prinzip verstößt“. Das Bild, das Fourest zeichnet, ist durchaus kohärent: Der Mann findet es unerträglich, wenn Mädchen und Buben dasselbe Schwimmbad benutzen, er hält nichts von Diskotheken und Kinos. Und er verfolgt eine ausgeklügelte Strategie, um seine Kreise zu erweitern. Er drängt seine Anhänger, „Sphären der Kollaboration“ zu entwickeln.

Im Unterschied zu den altväterlichen muslimischen Interessenvertretungen, die in Frankreich, aber auch in Deutschland gerne mit den christlichen Rechten kollaborieren, weil sie sich mit diesen durch die Achtung traditioneller Werte verbundener fühlen als mit laizistischen Sozialisten, sucht Ramadan seine Gesprächspartner auf der politischen Linken. Was er am Westen nicht mag, sagt er, sind „die Exzesse“, die „Besessenheit vom Konsumismus“ – für ihn ist die islamische Spiritualität eine Gegenkraft zu geistlosem Kommerz und Materialismus. Eine Gedankenreihe, die Ramadan in die Nähe linker Globalisierungskritiker rückt, was ihm vor etwas mehr als einem Jahr auch eine Einladung zum Europäischen Sozialforum in Paris einbrachte.

Ein Umstand, der damals Anlass zu wilden Vorwürfen gab, in globalisierungskritischen Kreisen sei Antisemitismus en vogue – denn Ramadan hatte zeitgerecht einen Streit mit führenden jüdischen Intellektuellen in Frankreich vom Zaun gebrochen. Deren Haltung zum Irakkrieg und zum Nahostkonflikt sei durch eine falsche proisraelische Loyalität bestimmt – diese „französisch-jüdischen Intellektuellen, die bisher als universalistisch galten, haben neuerdings angefangen, sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene Analysen zu erstellen, die immer stärker die großen Sorgen der jüdischen Gemeinschaft berücksichtigen“, schrieb er. Ausdrücklich nennt er Alain Finkielkraut, Bernard-Henri Lévy, André Glucksmann und den einstigen Gesundheitsminister Bernard Kouchner. Der hieß ihn im Gegenzug einen „intellektuellen Schurken“.

In einem zumindest ist Ramadan konsequent. In seinen Vorträgen findet sich kein einziger Aufruf zur Gewalt. Wer ihm mit Hinweis auf die Umstände kommt, die radikalen Widerstand doch legitimieren, dem antwortet er, wie jüngst in einem Gespräch mit der ägyptischen Wochenzeitung Al Ahram Weekly: „Wie immer die Umstände sein mögen, Menschen zu enthaupten oder Unschuldige als Geiseln zu nehmen ist nicht islamisch und sollte von allen Muslimen verurteilt werden.“ Das gelte auch für palästinensische Selbstmordattentäter, denn selbst „legitimer Widerstand“ dürfe sich keiner „illegitimer Mittel“ bedienen.

Sympathisch muss einem Ramadan bei Gott nicht sein. Doch es ist wohl wie immer in Orthodoxien – selbst die Häretiker sind noch gefangen in den Dogmen, die sie langsam aufweichen, sie beginnen als Grenzgänger, und wie sie enden werden, weiß man am Anfang nie. Wenn man den Islamismus nicht nur mit der Polizei bekämpfen, sondern ihm auch mit geistiger Auseinandersetzung beikommen will, dann wird man um Tariq Ramadan als Gesprächspartner nicht herumkommen.