: Der Marsch durch die Institutionen
Noch ist die orange Revolution in der Ukraine nicht entschieden. Wenn der EU wirklich an einer Demokratisierung gelegen ist, muss sie dem Land ein Beitrittsangebot machen
Nach vier Wochen ist die Revolution in der Ukraine immer noch orange: friedlich die Demonstranten, pragmatisch und kompromissbereit die Opposition um Wiktor Juschtschenko. Vor einer Spaltung des Landes warnt nur noch Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch. Unter größerer Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit und einem verbesserten Wahlgesetz werden die Ukrainer am 26. Dezember erneut die Chance bekommen, ihren Präsidenten zu wählen – nach Umfragen geht Juschtschenko als Favorit ins Rennen. Und doch haben die Demonstranten allen Grund, heute wieder auf die Straße zu gehen.
Denn die realen Machtverhältnisse in der Ukraine haben sich seit dem 22. November kaum geändert. Und bislang haben weder Juschtschenko und sein Fraktionsblock Nascha Ukraina (Unsere Ukraine) noch die Europäische Union erkennen lassen, dass ihnen an einem solchen Wandel wirklich gelegen ist. Gewiss, die Opposition hat ihre wichtigsten Forderungen durchgesetzt. Zuallererst die Wiederholung der Stichwahl zwischen Juschtschenko und dem nach der ersten Stichwahl voreilig zum Sieger erklärten Ministerpräsidenten Wiktor Janukowitsch. Zudem wurde das Wahlgesetz geändert. Die Stimmabgabe per Wahlschein außerhalb des eigenen Wohnorts ist nun verboten und der Regierung nicht mehr möglich, etwa Soldaten in Bussen von Wahllokal zu Wahllokal zu karren und mehrmals abstimmen zu lassen. Die wichtige Wahlkommission, die die Stimmen letztlich auszählt, wird wenigstens in Teilen neu besetzt. Wahlergebnisse zu fälschen wird künftig nicht unmöglich sein, aber immerhin erschwert.
Allerdings hat die Opposition für diese Neuerungen einen hohen Preis bezahlt. Das neue Wahlgesetz konnte sie dem amtierenden Präsidenten Leonid Kutschma nur abtrotzen, indem sie es ihm im Doppelpack mit einer Verfassungsreform darreichte, die die Rechte des Präsidenten bald kräftig einschränkt – und das schon in einem Dreivierteljahr. Dann wird sich der Präsident einem starken Parlament gegenübersehen, das einer Interessenvertretung der mächtigen Wirtschaftsclans gleichkommt und in seinen Mehrheiten nicht kalkulierbar ist. Fast alle Partei- oder Fraktionsführer in der Verchowna Rada vertreten eigene ökonomische Interessen, und zwar sowohl aufseiten der Regierungsparteien als auch auf der der Opposition. Dem Regime der Oligarchen, ausbalanciert durch Leonid Kutschma, sind Armut und Korruption in der Ukraine zu verdanken. Diese Unternehmer wissen mit einem Machtzuwachs sicher vieles anzufangen; sie werden ihn kaum nutzen, um das Gesetz zu stärken, die Bürgerrechte zu mehren und den Reichtum gerechter zu verteilen. Eine Regierung, die die Machtverhältnisse in der Ukraine wirklich verändern will, wird dies gegen das Parlament durchsetzen müssen. Zu bewältigen ist eine Mammutaufgabe: vom Umbau der regionalen Verwaltung bis zur Zwangsrückgabe der staatlichen Unternehmen, die sich die Oligarchen in den letzten Jahren bei Privatisierungen unter den Nagel gerissen haben. Viel Zeit bleibt dazu bis zum In-Kraft-Treten der Verfassungsreform nicht.
Präsident Kutschma hat sich somit die Möglichkeit eröffnet, auch nach einem Regierungswechsel seinen Einfluss zu behalten; die „Kutschma weg!“-Rufe der Millionen von Demonstranten in Kiew haben ihn nicht beeindruckt. Den von Janukowitsch und dem Chef des Präsidialamts, Wiktor Medwedschuk, geforderten Militäreinsatz gegen die Demonstranten Ende November soll er mit der Begründung zurückgewiesen haben, er wolle nicht als Präsident mit Blut an den Händen in die Geschichte eingehen. Ihm ging und geht es immer nur um die eigene Position und die seiner Kumpanen, und die Opposition ist ihm in dieser Haltung weit entgegengekommen.
Ohne Kutschma lief im vergangenen Monat gar nichts: Wollte er keinen runden Tisch mit Javier Solana, gab es keine Verhandlungen. Die begannen, wenn der ungeliebte Präsident sich dazu bereit erklärte. Und Zugeständnisse gegenüber der Opposition machte er nur dann, wenn auch sie ihm entgegenkam – siehe Verfassungsreform. Den Eindruck eines in die Enge getriebenen Staatsmannes hat Kutschma bislang zu keinem Moment erweckt, da konnten noch so viele Menschen in Orange vor seinem Präsidentenpalast campieren.
Nun mag die Kompromissbereitschaft, die Juschtschenko gegenüber Kutschma zeigt, eine weise Taktik sein. Immerhin hat es der gesundheitlich angeschlagene Ökonom geschafft, in einem weitgehend rechtsfreien Raum – weder das Misstrauensvotum gegenüber Janukowitsch noch die Entscheidung des Obersten Gerichts über die Wahlwiederholung waren rechtlich eindeutig geregelt – einen Eindruck von Legalität zu vermitteln. Schritt für Schritt, scheint es, rückt Juschtschenko näher an den Präsidentenpalast heran, und das mit Mitteln, die auch in Brüssel, Warschau oder Berlin akzeptiert werden. Folgerichtig seufzte der deutsche Außenminister Joschka Fischer zwischenzeitlich erleichtert, alle Beteiligten könnten mit dem Ausgang der Ereignisse zufrieden sein.
Zufrieden sein kann aber nur, wer Ruhe und Stabilität in der Ukraine als vornehmliches Ziel definiert. Der Bundeskanzler hat immer wieder deutlich gemacht, dass er sich wegen der Ukraine nicht mit seinem Duzfreund Wladimir Putin anlegen wird – solange der nicht allzu laut mit dem Fuß aufstampft, wenn er in Kiew Militärparaden abnimmt. Und die EU-Kommission hat mit ihrem Aktionsplan für die Ukraine vor zwei Wochen ein deutliches Zeugnis davon abgegeben, dass sie das Land auch künftig nicht ernst nehmen wird. Wenn der Union an einer demokratischen Ukraine gelegen ist, muss sie das Land an sich binden – und ihm Beitrittsverhandlungen anbieten. Anders als im Fall der Türkei steht sie bei der Ukraine nicht im Wort. Das Land wartet nicht seit Jahrzehnten auf die Einlösung von Versprechungen, die Verhandlungen könnten also tatsächlich ergebnisoffen geführt werden. Das läge durchaus auch im Interesse der Ukraine.
Denn europabegeisterte Parlamentarier, Politologen oder Journalisten in Kiew oder Lemberg verstehen unter der Union eine Art Freihandelszone mit liberalem Reiseregime. Dass die EU-Mitglieder Kompetenzen an ein supranationales Gebilde abgeben, wird kaum wahrgenommen – und würde wohl weder von den politischen Akteuren noch von der Bevölkerung des erst 13 Jahre jungen Nationalstaates akzeptiert. Sie möchten an Europas Wohlstand und Demokratie teilhaben. Und das ginge auch in Form einer privilegierten Partnerschaft, die der Türkei unannehmbar erscheint.
Bislang verkörpern die Demonstranten auf den Straßen von Kiew nicht mehr als die Möglichkeit einer anderen, demokratischen Ukraine. Ob sich der Status quo des Landes wirklich ändern lässt, liegt nicht nur an der Zähigkeit der Menschen in Orange, sondern auch daran, welche Angebote die EU ihrem Nachbarn jetzt macht.
HEIKE HOLDINGHAUSEN