: Überleben nur von Tag zu Tag
Henryk Mandelbaum war in einem Sonderkommando des KZ Birkenau. Im Filmhaus Köln berichtet er 60 Jahre später von seiner Leidenszeit. Die Zuhörer beeindruckt er durch seine Weltsicht ohne Groll
Von Jürgen Schön
„Es war so schrecklich, dass man es nicht erzählen kann. Man muss es gesehen haben. Aber ich wünsche keinem, dass er das sieht.“ Mit diesen Worte leitet Henryk Mandelbaum seinen Zeitzeugenbericht ein. Denn trotz der Unmöglichkeit will er erzählen, was er als Mitglied eines Sonderkommandos im Vernichtungslagers Birkenau erlebt hat. Dort war er vor allem für die Verbrennung der mit Zyklon B ermordeten Juden eingeteilt. Er ist einer von nur zwei Überlebenden, die darüber in der Öffentlichkeit sprechen. Mandelbaums tut es, weil „die Jugend von heute wissen soll, was damals passiert ist.“ Aber er weiß: „Auschwitz-Leugner lassen sich nicht bekehren.“
Der heute 82-Jährige war am Samstag aus Polen nach Köln ins Filmhaus gekommen. Dort wurde der Film „Grauzone“ von Tim Blake Nelson gezeigt, der am 27. Januar, dem 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee, in Deutschland anläuft. Der US-Regisseur setzt darin dem einzigen Häftlingsaufstand im KZ Birkenau ein Denkmal. Zwei Sonderkommandos (siehe Kasten) hatten ihn am 7. Oktober 1944 gewagt. Der Aufstand wurde zwar in kürzester Zeit niedergeschlagen, doch den anderen Häftlingen zeigte er, dass auch die SS nicht unangreifbar war. „Grauzone“ vermischt Fakten und Fiktion.
Die Zuschauer im Filmhaus sind von den eindringlichen Bilder des Films und der differenzierten Darstellung der Männer, die um ihr Überleben kämpfen und ihre Würde behalten wollen, beeindruckt. Henryk Mandelbaum dagegen kennt nur den Anfang von „Grauzone“. Mehr will er auch nicht sehen. Denn der Film zeige nicht die Wahrheit, sondern nur „geschminkte Schauspieler“ und außerdem „hatten wir keine Zeit, so opulent zu essen, wie es da gezeigt wird“.
Für die Zuschauer, die anschließend an dem Gespräch mit Henryk Mandelbaum teilnehmen, ist das mehr als nur eine „Ergänzung“. Beeindruckt sind sie etwa von seiner Weltsicht ohne Groll. „Es gibt überall gute und schlechte Menschen, die gab es auch unter den SS-Leuten im Lager“, sagt er etwa. Dies habe er schon vor dem KZ erfahren, als er etwa bei einem SA-Mann Zuflucht gefunden hatte. Natürlich habe es auch Sadisten gegeben. Etwa der SS-Mann Moll, der ihm befahl, sich mit einem kleinen Stock quer im Mund vor einen Baum zu stellen, und dann mit der Pistole auf ihn geschossen habe – und den kurzen Stock getroffen habe.
„Jeder wollte überleben“, fasst Henryk Mandelbaum seine Erfahrungen aus dieser Zeit zusammen. Auch er habe nur von Tag zu Tag überleben wollen. Und wenn er sich geweigert hätte, im Sonderkommando zu arbeiten, hätte es eben ein anderer gemacht. „Und dann wäre ich heute nicht hier.“
Dabei habe er anfangs gar nicht gewusst, wo er gelandet sei. „Als ich sah, wie den anderen die Häftlingsnummer eintätowiert wurde, bat ich, bei mir doch etwas kleiner zu schreiben. Das geschah auch“, erzählt er eine bittere Anekdote und zeigt die Nummer 181 970 auf dem linken Unterarm. Über so viel Naivität lächelt noch mancher Zuhörer.
Doch ihr Atem stockt, wenn Mandelbaum auf Deutsch penibel den technischen Ablauf der Leichenverbrennung in großen Gruben erzählt. Wie nur Köpfe und Extremitäten der aufgestapelten Körper verbrannten, wie er aus den Löchern an den Ecken geschmolzenes Fett schöpfte und wieder auf die Leichen goss, damit sie besser brennen.
Über ein halbes Jahr gehört Mandelbaum dem Sonderkommando an. Als nach dem Aufstand jeder Dritte seiner Gruppe, die nicht an der Revolte teilgenommen hatte, erschossen wird, ist er nicht unter den Opfern. Beim Todesmarsch aus dem Lager, den die KZ-Leitung dem Sonderkommando kurz vor der Befreiung befahl, kann er fliehen.
„Wie konnten sich Menschen so etwas antun?“, fragt sich Henryk Mandelbaum noch heute und spricht die aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen an. „Alle Präsidenten dieser Welt und die Parlamente müssten sich in Auschwitz, dem größten Friedhof der Welt, treffen. Dann würde es das nicht mehr geben“, hofft er.