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Archiv-Artikel

„Auf der Erde sind wir obdachlos“

Auf Tour mit seinen Bands Woven Hand und 16 Horsepower hat David Eugene Edwards gelernt, dass man zum Leben nur seine Kleidung, eine Gitarre und ein Buch braucht: ein Gespräch mit dem Songwriter über Seelenheil und Entsagung, Amerika als Land aus Ideen, Folk als alternative Geschichtsschreibung und über gut genähte Hemden

INTERVIEW MAX DAX

taz: Mr. Edwards, Ihr Großvater war Wanderprediger der Church of Nazarene. Predigen Sie auch, wenn Sie auf der Bühne stehen?

David Eugene Edwards: Wie Sie schon sagen, mein Großvater war Wanderprediger, ich bin es nicht – obwohl ich ein streng gläubiger Mensch bin.

Die Selbstdarstellung der Nazarener-Kirche im Internet wirkt wie das Portal einer Sekte.

Die Church of Nazarene ist eine protestantische Absplitterung der Kirche und aus dem so genannten „Holiness Movement“ in Amerika entstanden. Der wesentliche Unterschied zu anderen Kirchen in Amerika ist, dass die Anhänger der Nazarener-Kirche mit vielen Einschränkungen leben müssen. Ihnen wird gesagt, wie sie sich zu benehmen haben in der Gesellschaft und was sie auf gar keinen Fall tun dürfen. Man darf nicht ins Kino gehen, nicht Karten spielen, keinen Alkohol trinken. Frauen durften bis vor kurzem keine Hosen tragen und auch kein Make-up. Die Nazarener sind keine Sekte wie die Amish People, aber sie sind ziemlich hart drauf. Gegründet wurde die Kirche in den Zwanzigerjahren in Texas, wie Sie sich vorstellen können. Ich glaube aber, dass es falsch ist, eine Kirche auf Angstmache aufzubauen und die Menschen über diese Methode zu kontrollieren.

Das klingt, als ob Sie über George W. Bush reden.

Das ist das gleiche Prinzip und genauso gefährlich. Die Kernaussage der Nazarener lautet: Die Menschen werden nicht erlöst, wenn sie zu Lebzeiten sündigen. Ich halte das nicht für richtig, denn es gibt keine Passage in der Bibel, die das so hart formulieren würde. Meine Eltern verließen die Kirche, als ich noch ein Kind war. Wir wechselten zu einer Baptistenkirche, die uns nicht so weltfremd erschien.

Was kann uns eine Kirche heutzutage bieten, die nicht so weltfremd ist?

Seelenheil. Nehmen Sie einen Künstler wie Jeffrey Lee Pierce, den 1996 verstorbenen Sänger der von mir hoch verehrten Band The Gun Club. Er machte die schönste Musik der Welt, aber er war verzweifelt und zerstörte sein Leben mit Drogen. Ich glaube nicht, dass es ihn so erwischt hätte, wenn er an Gott geglaubt hätte.

Woran glauben Sie eigentlich genau? Sie haben Ihre Arme tätowiert mit einem Davidstern, einem Kreuz und einem Akkordeon.

Der Davidstern umschließt das Kreuz. Jesus war ein Jude. Das Evangelium ist die Geschichte eines Juden. Die Juden sind die von Gott Auserwählten – da habe ich gar keine Zweifel. Ich bin nur in diese Familie adoptiert worden.

Ihr Thema sind Geschichten für die Ewigkeit: Ihre Lieder handeln von Sündern und Outlaws. Was fasziniert Sie an diesen Außenseitern?

Ich weiß nicht, ob Faszination das richtige Wort ist. Denn jeder lebt nach seinen eigenen Regeln und folgt seinem eigenen Weg. Jemand, der nur nach seinen eigenen Regeln lebt – das ist in den Augen der meisten ein Outlaw. Da ist es fast irrelevant, ob der eine von den Reichen klaute, um das Erbeutete den Armen zu geben – oder ob einer als Einsiedler nach dem Sinn des Lebens sucht. Aber wir erinnern uns an diese Menschen, weil es Lieder über sie gibt.

Es gibt Leute, die behaupten, dass die Geschichten der Folk Music die eigentliche, die aufrichtige Geschichtsschreibung der USA sei.

Das ist richtig. Die Mythen des Landes sind in den Liedern. Die Lücken in den Geschichtsbüchern sind in den Liedern – unsere Erinnerung ist in dieser Musik konserviert. Diese Lieder, aber auch die Geschichten, die mir meine Eltern erzählten, die Bibel und die Bücher, die ich lese, sind das Fundament meiner Vorstellung von Amerika. Aber ich sehe mich in diesem Sinne nicht als Bewahrer einer Tradition. Ich bin da viel eher wie ein Handwerker, der Tag für Tag das tut, was er am besten kann: Singen und Gitarrespielen. Ich habe nichts anderes gelernt. Ich folge der Musik. Wenn ich also von Erfahrungen singe, dann von meinen Erfahrungen, und das heißt nun einmal von amerikanischen Erfahrungen. Und Amerika ist groß. Amerika ist immer der Anfang der Ideen.

Und wann kam Ihnen die Idee, Musiker zu werden?

In einer Kirche. Bis zu meinem siebten Lebensjahr habe ich Musik nur dort gehört. Ich hatte kein Radio und auch keine Schallplatten. In der Kirche aber gab es einen Pianisten und einen Chor einfacher Leute, den mein Großvater manchmal dirigierte. Da ich diese Rituale als Kind sehr mochte, habe ich als Kind irgendwann mitgesungen. Dann habe ich angefangen, Schallplatten zu hören. Die Gospelplatten von Johnny Cash, Platten von Hank Williams, ziemlich bald Bob Dylan, dann natürlich Woody Guthrie – denn wenn man einmal Dylan gehört hat, dann interessieren einen natürlich auch seine Vorbilder. Und wenn man schon einmal bei Woody Guthrie angelangt ist, dann will man auch Leadbelly hören, und so taucht man automatisch immer tiefer in die alte amerikanische Folk- und Bluesmusik ein – denn alles bezieht sich aufeinander, selbst die Melodien der Songs zitieren einander und geben den Songs so Bedeutungen, die weit tiefer liegen als die Wörter, die gesungen werden.

Sie sagten einmal: Bei dem Versuch, alte Songs zu rekonstruieren, entstehen neue Songs.

Lieder bauen immer auf solchen Rekonstruktionen auf. Aber auch auf Rekonstruktionen von Gerüchen, Farben, Umständen, Begegnungen und Erlebnissen. Diese in Bilder zu übersetzen, ihnen eine Melodie anheim zu geben – daraus entstehen Songs. Aus Erinnerungen an Momente, die schön waren oder sonst wie außergewöhnlich.

Welchen Einfluss haben Ihre vielen Reisen durch Europa auf Sie gehabt?

Einen enormen. In Denver bekommt man nicht so viel mit, kann ich Ihnen versichern. Man muss sich aufraffen und in die öffentliche Bibliothek gehen, wo es in der Regel eine gut ausgestattete Audioabteilung gibt. Dort kann man sich all die alten Folkways- und die Library-of-Congress-Recordings anhören, und in Denver gab es auch Platten mit mongolischer Musik, Zigeunermusik, französische Renaissancemusik. Im Grunde hat meine musikalische Entdeckungsreise in einer Bibliothek begonnen.

Die neue Platte, „Consider The Birds“, Ihrer Band Woven Hand kreuzt dunklen Country mit Elementen mittelalterlicher Musik. Das klingt zuweilen überraschend dramatisch – oft aber auch pathetisch, etwa wenn Sie in dem Song „Down In Yon Forest“ ausrufen: „Where is my country?“

Das ist richtig beobachtet. Aber Sie haben nur halb zitiert: In dem Song singe ich: „Roma, Roma – where is my country?“ Es ist die Frage nach der spirituellen Heimat am Beispiel des Volks der Heimatlosen – der Roma. Ich selbst verspüre dieses Gefühl der Heimatlosigkeit in mir. Nirgendwo auf dieser Erde ist mein Zuhause. Das ist zugleich eines der zentralen Themen der Bibel: Wir sind alle Fremde auf dieser Welt, unsere Heimat ist nicht hier, sondern im Himmel – auf der Erde sind wir obdachlos.

Als Musiker zelebrieren Sie diesen Zustand der Heimat- und Rastlosigkeit öffentlich, indem Sie auf Tourneen geben.

Ich genieße es, mit meinen Musikern zusammen zu sein und mit ihnen zu spielen. Aber das Reisen an sich, die Hotels, die langen Wochen ohne Frau und Kinder – das kann einen schon zermürben. Ich empfinde auch häufig Heimweh. Starkes Heimweh zu meiner Familie, die ich, wenn überhaupt, als meine Heimat bezeichnen wollen würde. Bestimmt ist nicht Colorado oder Denver oder mein Haus meine Heimat. Ich meine: Wo immer ich gerade bin, ist mein Haus.

Was für einen Einfluss hat das kontinuierliche Reisen sonst noch auf Sie? Man reist ja doch mit einem Bruchteil seines Besitzstandes, muss sich reduzieren.

Man stellt auf alle Fälle fest, dass man für ein erfülltes Leben nicht wirklich mehr als diesen Bruchteil tatsächlich braucht. Man lernt gewissermaßen den Materialismus von der anderen Seite kennen: dass man außer seiner Kleidung, seiner Gitarre und einem Buch nicht viel mehr braucht im Leben.

Sie scheinen wirklich ein Asket zu sein.

Habe ich Ihnen schon erzählt, dass mich Europa regelmäßig ruiniert? Ich habe nämlich einen Schuhtick – und in Europa gibt es die schönsten Schuhläden mit den schönsten Schuhen. Da haben Sie’s.

Das ist sozusagen Ihre feminine Seite.

Genau. Aber ich sage Ihnen eins: Das war eine bewusste Entscheidung, dieses Leben leben zu wollen. Ich wollte wissen, ob ich mit wenig Dingen auskomme, ob ich einen Fernseher brauche, Computer, all die Dinge, die einem das moderne Leben so an Bequemlichkeiten offeriert.

Sind Sie ein Modernitätsverweigerer?

Ich bin einfach kein Materialist. Wenn ich dieser Moderne oder Postmoderne etwas vorzuwerfen hätte, dann, dass diese Gesellschaft uns permanent zum Konsum verführen möchte, dass wir unsere Zeit dafür opfern und unser Geld und unseren inneren Frieden. Das prangert schon die Bibel an, und deshalb ist es auch meine Meinung. Es gab mal eine Zeit, in der war es selbstverständlich, dass man haltbare Dinge gebaut hat. Ich rede auch von der Liebe, die man in das Handwerk steckt, von der Sorgfalt. Gucken Sie sich ein Hemd an, das Ihnen ein Schneider, nachdem er an Ihnen Maß genommen hat, näht. Das ist schön, das geht nicht kaputt. Aber das Handwerk ist trotzdem verschwunden und das handgenähte Hemd zum Luxusprodukt geworden. Es liegt ja auf der Hand, woran das alles liegt – alles ist vom Geldkreislauf gesteuert und von der Aussicht auf Profite. Aber schade ist es allemal.

Benutzen Sie bewusst ausschließlich alte Instrumente?

Ja. Ich suche nach ihnen, weil ich mag, wie sie aussehen, weil ich ihren Klang mag – und weil ich mir einbilde, dass nach mir einer kommen wird, der das Instrument weiterspielen wird. Wenn ich ein neues Instrument in die Hand nehme, dann klingt es meistens fürchterlich. Mein Banjo ist 107 Jahre alt, und ich bin stolz darauf, es zu spielen. Und es klingt nur deshalb so gut, weil es während dieser 107 Jahre fortwährend gespielt worden ist. Es hing nicht wie eine Trophäe an irgendeiner Wand. Ich habe auch schon Instrumente kaputtgespielt, weil sie alt und zerbrechlich waren und sie irgendwann einfach keinen Laut mehr von sich gaben. Auch so etwas passiert. Aber mit den Instrumenten ist es wie mit den Menschen: Irgendwann hört jedes Leben auf.