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Archiv-Artikel

Die Gemeinschaft der Nichthandelnden

Die soziale Ungleichheit in Europa nehme zu, bemängeln kritische Wirtschaftsforscher: Ergebnis der Politik der EU-Kommission. Die Ökonomen fordern eine neue Entwicklungsstrategie und mehr öffentliche Investitionen

BERLIN taz ■ Diese Chance ist verpasst. Im dritten Quartal ist der wirtschaftliche Aufschwung, der die Europäische Union Mitte letzten Jahres erfasst hatte, wieder abgeknickt – ohne dass zuvor der von der EU-Kommission noch zuletzt mehrfach beschworene „große Sprung nach vorne“ gelungen wäre. „Der Teufelskreis aus Wachstumsschwäche, hoher Arbeitslosigkeit und zunehmender Ungleichheit bleibt geschlossen“, heißt es im inzwischen siebten Euromemorandum der Arbeitsgruppe Europäischer Wirtschaftswissenschaftler, das fast 200 Ökonomen aus ganz Europa unterschrieben haben.

Zwangsläufig sei diese Entwicklung nicht gewesen, aber sie sei „das konsequente Ergebnis einer europäischen Politik, in der es eine Mehrheitsstimmung für gemeinsames Nichthandeln“ gebe. Die Experten gehen davon aus, dass die im Jahr 2000 beschlossene so genannte Lissabon-Strategie, nach der Europa bis zum Jahr 2010 die „wettbewerbsfähigste Wirtschaftsregion der Welt“ werden sollte, schon zur Halbzeit gescheitert ist – aber nicht, weil die Umsetzung mangelhaft war. Schon der politische Ansatz mit seinem engen makroökonomischen Rahmen, der einseitigen Tendenz zu Liberalisierung und Deregulierung sowie mangelnder Transparenz sei falsch gewesen: Er habe dazu geführt, dass die öffentlichen Investitionen im Durchschnitt der letzten vier Jahre mit 2,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) deutlich hinter denen in den USA und Japan zurückblieben, wo sie 2,9 und 4,3 Prozent ausmachten. So hätten Public-Private-Partnership-Projekte wie die Europäische Wachstumsinitiative oder Quickstart, mit denen Infrastruktur und Bildung verbessert werden sollten, von vornherein an Unterfinanzierung scheitern müssen. Konsequenz: Die regionalen Ungleichheiten bei Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Armut, die schon seit langem ein Problem der EU darstellen, sind gewachsen.

Tatsächlich ist das Verhältnis der Prokopfeinkommen im reichsten und im ärmsten Land nach der Erweiterung im Mai von 3 zu 1 auf 5 zu 1 gestiegen. Dabei finden sich die niedrigsten Einkommen inzwischen im Osten, obwohl es weder im Westen noch im Süden eine Verbesserung gegeben hat. „Die Rede von einer europäischen Wirtschaft ist zunehmend illusorisch“, heißt es deswegen im Memorandum.

Die Experten schlagen eine komplett neue Entwicklungsstrategie vor, deren Kernpunkt ein koordiniertes öffentliches Investitionsprogramm mit einem Volumen von rund 90 Milliarden Euro darstellt. Damit wollen sie nicht nur die Infrastruktur ausbauen, sondern auch einen ökologischen Umbau finanzieren. Das Geld soll über Anleihen bei der Europäischen Investitionsbank aufgebracht werden. Diese werden nicht auf die öffentlichen Defizite angerechnet. Darüber hinaus empfiehlt die Arbeitsgruppe, den EU-Haushalt schrittweise auf 5 Prozent des EU-BIP anzuheben, die Konkurrenz bei den Unternehmensteuern zu beenden und stattdessen die Bemessungsgrundlage zu vereinheitlichen sowie einen einheitlichen Steuersatz von 40 Prozent festzusetzen und die Deregulierung des Dienstleistungsmarktes zu stoppen. „Die Tatsache, dass die neoliberale Strategie bis heute nicht korrigiert worden ist, lässt sich nur dadurch erklären, dass transnationale Konzerne und Finanzinstitutionen mit großer Marktmacht von ihr profitieren“, schreiben die Ökonomen in ihrem Memorandum. Deren Versuch, die eigenen Interessen durchzusetzen, ähnle einem „Klassenkampf von oben“. Die Politik habe dem nur etwas entgegenzusetzen, wenn die einzelnen Mitgliedsländer ein gemeinsames Konzept für ein Europäisches Gesellschaftsmodell entwickelten, in dem Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit als zentrale Ziele formuliert würden. BEATE WILLMS