: Hirngespinst Konsumflaute
Nie wurde in Deutschland so viel konsumiert. Entsprechend robust ist die deutsche Wirtschaft – weshalb wir uns ohne Probleme ein solides Sozialsystem leisten können
Schuld ist natürlich die Konsumflaute. An allem. Daran, dass der Bundesregierung der Haushalt um die Ohren fliegt. Dass den Renten- wie den Krankenkassen das Geld ausgeht. Dass Karstadt-Quelle so herbe Verluste macht und auch Opel tausende von Mitarbeitern entlassen muss. Schon flehen Politik und Wirtschaft um Erlösung – und erheben den weihnachtlichen Kaufrausch zur moralischen Bürgerpflicht.
Ein übles Spiel. Denn das Wort „Konsumflaute“, das Politiker wie Arbeitgeber und Gewerkschaften so permanent benutzen, ist reichlich zynisch – bezogen auf unsere Luxusökonomie. Zwar ist unbestritten, dass es in Deutschland Menschen gibt, die aufgrund ihrer Armut ausgeschlossen sind von den bunten Konsumwelten. Doch von einer nationalen Konsumflaute können nur Zyniker reden: Das Wort ist unfair gegenüber den vielen Menschen in anderen Teilen der Erde, die sich um das wirklich Notwendige sorgen statt wie mancher bei uns über seine überhöhte Handyrechnung.
Das Wort ist zudem grotesk mit Blick auf die Umwelt, die – vom Energieverbrauch bis zum Müll – unter unseren Konsumexzessen bitter leidet. Denn die Behauptung, es gebe hierzulande eine Flaute, ist schlichtweg falsch – es gibt sie allein in den Köpfen. Objektiv betrachtet haben die Menschen in Deutschland nie zuvor so viele Güter und Dienstleistungen konsumiert wie in der Gegenwart.
Das fängt beim Wohnen an. Jeder Durchschnittsbürger leistet sich derzeit 40,5 Quadratmeter Wohnfläche, 0,4 mehr als noch vor einem Jahr. Und mehr als jemals zuvor in der deutschen Geschichte. Und – ach – die Autokonjunktur dümpelt ja so arg. Von wegen: Nie zuvor besaßen die Deutschen so viele Autos wie just in diesem Moment. Auch in den vergangenen zwölf Monaten nahm die Zahl der Fahrzeuge auf deutschen Straßen täglich um 1.000 zu. Und sie wird es am heutigen Tage wieder tun. Oder nehmen wir den Flugverkehr. Der Airport Frankfurt wird 2004 erstmals die Marke von 50 Millionen Passagieren überschreiten. Denn quer durch alle Bevölkerungsgruppen steigt die Nachfrage nach Flugtickets. Zeichen einer Wirtschaftskrise?
Das Schema ist stets dasselbe, so auch beim Freizeitkonsum. Der größte deutsche Freizeitpark in Rust meldet für die abgelaufene Saison einen neuen Besucherrekord. Zugleich verkündet eine weitere Branche aus der Luxuswelt, das Wellnessgewerbe, gut 5 Prozent Umsatzplus für 2004. Und über allem thront schließlich der Energieverbrauch: Erneut erreicht der Stromkonsum in diesem Jahr ein Rekordniveau – auch das eine Entwicklung, die schwerlich das Produkt einer wegen Konsumverweigerung kriselnden Nationalökonomie sein kann. Bleibt der Einzelhandel, der tatsächlich seit mehreren Jahren kein Wachstum mehr erzielt. Doch selbst hier keine Spur von Flaute – es herrscht schlicht Stagnation; die Menschen konsumieren heute ebenso viel wie vor fünf Jahren. Umsatzmilliarden, die damals noch Boom hießen, werden heute Flaute genannt. Mit seriöser Statistik hat das nichts zu tun.
So ist das Bild einer Gesellschaft von Konsummuffeln in der Bundesrepublik ein reines Konstrukt von Faktenverdrehern; die Larmoyanz gleichsam eine Massenpsychose ohne realökonomische Grundlage. Die vermeintliche Krise entstammt schlicht einer Gesellschaft, die ihre Maßstäbe verloren hat. Warum das alles? Natürlich steckt dahinter System. Die Parteien in Bund und Ländern – zu feige, um ausreichende und angemessene Steuern zugunsten eines soliden Haushalts zu erheben – pflegen lieber den Mythos einer Wirtschaftskrise und hoffen auf Wachstum wie das Kind auf den Weihnachtsmann. Auch der Vorstand, dessen Firma Verluste macht, spricht lieber von nationaler Konsumschwäche als von eigenen Managementfehlern. Und ebenso klinkt die Wirtschaftswissenschaft sich ein in das kollektive Gejammer – um zu vertuschen, dass sie jenseits diffuser Hoffnungen auf Wachstum an ökonomischer Theorie rein gar nichts zu bieten hat.
So dient der vermeintliche Kaufboykott längst als universelle Ausrede. Aber nicht nur. Die konstruierte Krise ist für Unternehmen und Teile der Politik zugleich Vehikel, ungeliebte Sozialstandards über Bord zu werfen. Getreu dem Motto: Die Krise fordert eben ihren Tribut. Auf diese Weise ist das Wort „Konsumflaute“ längst auch zum Kampfbegriff derer geworden, die sich in der Luxusgesellschaft so kommod eingerichtet haben. Befremdlich nur, dass der Begriff auch von anderen munter rezitiert und geradezu inbrünstig in die Welt hinausgetragen wird.
Womit wir beim entscheidenden Punkt sind. Wer den Sozialstaat erhalten will, sollte aufhören mit dem Krisengerede und stattdessen zur Verbreitung einer offenkundig vergessenen Botschaft beitragen: Wir leben in einem Land, dessen Ökonomie – objektiv bemessen am Bruttoinlandsprodukt – mehr denn je Höchstleistungen erbringt. Woraus folgt, dass wir uns einen angemessenen Sozialstaat sehr wohl leisten können. Erst wenn diese Erkenntnis sich durchsetzt, wird mehrheitsfähig, was unser Sozialstaat so dringend braucht: mehr Steuern zugunsten der Sozialsysteme. Das ist zwar weder neu, noch hat diese Forderung in der Vergangenheit zum Erfolg geführt. Doch sollte sich davon niemand beirren lassen. Vielmehr gilt es, aus den Fehlern zu lernen – denn gescheitert ist das Ansinnen allein dort, wo höheren Steuern das Image von Klassenkampf und Sozialneid anhaftete. So hat etwa eine Vermögensteuer – man mag es bedauern – in diesem Land aktuell tatsächlich keine Chance. Und auch an eine Erhöhung der Einkommensteuer ist nicht zu denken; eher steht eine weitere Absenkung an.
Also sollte, wer den Sozialstaat wieder finanzierbar machen will, sich auf eine Steuer konzentrieren, die so herrlich unideologisch ist: die Mehrwertsteuer. Sie bringt satte Erträge ohne zusätzlichen Verwaltungsaufwand (der stets ein Problem der Vermögensteuer war). Sie führt ferner dazu, dass auch Importprodukte zur Finanzierung der Sozialsysteme beitragen (womit eine bestehende Wettbewerbsverzerrung entschärft würde). Und nicht zuletzt hat die Mehrwertsteuer den Charme einer Gemeinschaftsaufgabe, weil jeder Bürger gemäß seinem Konsum belastet wird.
Ihre Erträge sind zudem reichlich: Jeder Prozentpunkt bringt etwa 8 Milliarden Euro im Jahr. So generieren bereits 1 oder 2 Prozentpunkte satte Zusatzeinnahmen zugunsten der Sozialkassen – von der Kinderbetreuung bis zur Altenpflege, von der Renten- bis zur Krankenkasse. Und wenn man will, bleibt auch noch was für die Bildung übrig. Die uralte Behauptung, eine höhere Mehrwertsteuer sei unsozial, verfängt in diesem Fall nicht, weil die Einnahmen nicht versickern, sondern gerade ins Sozialwesen fließen.
Bleibt noch der Einwand, eine steigende Verbrauchsteuer dämpfe den Konsum im Land. Er dürfte sogar richtig sein. Nur: was soll’s? Ein moderat reduzierter Konsum wäre für Deutschland immer noch üppig genug – zumal dann, wenn wir im Gegenzug unser Sozialsystem sanieren. BERNWARD JANZING