: Wozu braucht man eine Zeitung?
Von Martin Mosebach
„Ich verstehe nicht, wieso wir uns in den Ferien in eine noch hässlichere Umgebung setzen müssen als zu Hause in Berlin“, sagte die junge Frau, die sich mit verdrossener Miene in das erbsensuppenfarbene Gewöll des aufgeklebten Teppichs versenkt hatte, während der Mann mit einem friedvollen Lächeln aus dem Fenster guckte.
„Du siehst von hier das Weißhorn, einen Dreitausender, blank wie ein Bergkristall, ein heiliger Berg wie im Himalaja, daneben die Rürisalpe, den Birkenstock und den Watzmann“, antwortete er, aus der Entzückung allmählich zurückkehrend, aber auf seinen Zügen lag noch ein fernes, stilles Leuchten von Firnschnee und blauen Gletscherspalten.
„Ich sehe vor allem, dass wir am Ende der Welt sind, für jede Tüte Milch müssen wir eine halbe Stunde mit dem Auto fahren, und nicht einmal eine Zeitung kriegt man in Jeizinen.“
Im Fensterviereck zog eine Biene ihre Flugbahn; es war, als wolle sie angesichts ungehemmter Aussicht ins Weite für eine zierliche Vordergrundstaffage sorgen.
„Eine Wespe“, sagte die Frau, sie sprach leise und gespannt, als könne das Insekt sie hören. „Eine Biene“, sagte der Mann, „sie sammeln hier köstlichen Tannenhonig, um den Baum dort hinten tummeln sich hunderte.“
„Das sind Wespen“, sagte die Frau illusionslos und mit kaum noch beherrschter Panik. „Von Wespenstichen kann man Erstickungsanfälle kriegen, man kann zuschwellen, bis man die Augen nicht mehr öffnen kann, man kann querschnittsgelähmt werden, ein Leben im Rollstuhl nach einem einzigen Stich, ich kenne solche Fälle.“
„Wespen unterscheiden sich von Bienen durch Farbe und Körperbau.“ Die Stimme des Mannes nahm etwas Dozierendes an. „Wespen sind giftig schwefelgelb und drahtig, wie mit dünnem Papier beklebt, während Bienen weich gerundet, pelzig mit warmen Honigtönen und einfach viel milder, voluminöser erscheinen.“
„Wenn du das so genau weißt, dann sag mir: Ist das eine Biene oder eine Wespe?“
„Sie bewegt sich zu schnell und ist zu klein und außerdem schwarz im Gegenlicht“, antwortete der Mann. Behutsam, durch die Fensterscheibe geschützt, bewegte die Frau den Fensterflügel und schlug ihn dann unversehens zu. Fein pochend traf das Glas auf den Insektenkörper. Aber das verwirrte das winzige Flügelwesen nur einen Augenblick lang. Es wandte sich vom Haus ab und flog schnurgerade ins Blaue, Ungemessene.
„Ich weiß nicht, wie ich es hier ohne Zeitung aushalten soll“, murmelte die Frau. „Es ist gut, dass wir keine Zeitung haben“, sagte der Mann. „Wenn ich für eine Zeitung schreiben soll, darf ich keine Zeitung lesen. Wenn ich eine Zeitung lese, beginne ich mir den Kopf zu zerbrechen, was eine Zeitung wirklich bräuchte. Wie kann ich da anfangen, das essenziell Unbrauchbare zu schreiben, was sie dort von mir erwarten? Tänzelnd, geschwätzig, substanzlos zu sein, wie sie das immer haben wollen? Unnötiges zu schreiben, wenn ich mir gerade darüber im Klaren bin, was für eine Zeitung heute nötig wäre?“
„Wenn ich meinen ersten Wespenstich habe, reisen wir ab.“
„Das geht nicht, ich muss erst meine drei Artikel geschrieben haben.“ Diese höfliche Korrektur machte die Frau zornig. „Ich muss in diesem geschmacklosen Chalet im Hochsommer mit geschlossenen Fenstern ausharren, um nicht von den Wespen aufgefressen zu werden, damit du deine unnötigen Artikel schreiben kannst.“
„Ganz unnötig sind sie nicht. Zuerst ist eine Glosse über den Nationalstolz an der Reihe. Ich möchte die These vertreten, dass die Deutschen erst mehrheitlich Türken werden müssen, um wieder auf den Sieg über die Türken bei Wien stolz sein zu können. Ich gebe zu, es ist ein etwas verwickelter Gedanke, geradezu um die Ecke gedacht, aber gerade deswegen doch eigentlich ganz geistreich, nicht wahr? Ich frage mich nur: Ist das ein langer Riemen von zehntausend Zeichen oder ein frecher, spritziger Zwanzigzeiler? Das sollte man vor dem Anfangen schon wissen.“
„Wenn du jetzt nicht anfängst, könnten wir ins Tal fahren und eine Zeitung kaufen“, sagte die Frau.
„Ich könnte auch mit meinem seit langem geplanten wissenschaftlichen Artikel über die Amphoren anfangen“, fuhr der Mann fort, als habe er nicht gehört. „Es klingt kaum glaubhaft, aber es ist eine erregende Vorstellung und wahrscheinlich eben doch irgendwie möglich: Die Töpferscheiben der Antike könnten wie die Wachszylinder funktioniert haben, mit denen man die ersten Schallplattenaufnahmen gemacht hat. Stell dir vor, dass man einer alten griechischen ausgegrabenen Vase mit irgendeinem zu entwickelnden Abhörgerät die Gespräche der Töpfersklaven ablauschen könnte.“
„Au, mich hat eine Wespe gestochen.“ Die Frau sprach so ironisch und kühl, dass der Mann sie ansah. „Das war ein antiker Sklave“, erklärte sie. „Du und deine Freunde erfinden einen wahnsinnigen Apparat für die Vase, und dann hört ihr einen alten Griechen seine Banalitäten erzählen.“
„Ich finde, man könnte mit der bloßen Möglichkeit einer solchen Übertragung etwas beweisen, jedenfalls wäre es doch Stoff für einen Artikel – etwa so: Wir haben immer gewusst, was Sokrates sagte, aber wir haben ihn nicht gehört. Außerdem wäre der Aufsatz gut zu illustrieren, mit Fotos von Vasen.“
Die Frau war aus dem Zimmer gegangen; man hörte aber ihr ärgerliches Selbstgespräch aus der Küche. „Diese Idiotie, sich in ein Haus mit Gasflasche zu setzen. Alle Ferienhäuschenbesitzer hantieren mit der schweren Bombola herum. Ich will Kaffee trinken und muss erst diese Bombola anschließen und mir die Fingernägel einreißen. Ich wünschte, wir wären in Berlin geblieben.“
„Asien ist auch schön“, sagte der Mann. „Ich habe mal einen Wuppertaler Möbelfabrikanten interviewt, der für asiatische Wohnkultur eintrat …“
„Ich dachte, du selbst hättest mal geschrieben, dass man ‚Wohnkultur‘ nicht sagen darf – ich bin so blöd, diese Pseudoregeln von dir zu übernehmen, und du selber hältst dich nicht dran“, rief die Frau aus der Küche; sie saß dort still und schaute in die bläuliche Gasflamme unter dem zerbeulten Aluminiumkessel. Vor dem Küchenfenster stiegen wie Fische in einem Aquarium die Wespen auf und ab. Die Frau dachte: „Hier muss irgendwo ein Nest sein.“
„Der Mann fabrizierte Bambusmöbel in philippinischem Kolonialstil – was waren die Philippinen überhaupt für eine Kolonie? Hab' ich vergessen“, der Mann verlor sich in der Schau einer inneren historischen Landkarte. „Dieser Mann war von der Minderwertigkeit des Bambus überzeugt; er entwarf und kaufte und bestellte Bambusmöbel, aber er traute dem Bambus nicht über den Weg, und deshalb benutzte er nur künstlichen Bambus, Plastikbambus, um die Wahrheit zu sagen. Ich fand das faszinierend – ein Mensch verliebt sich in ein Material, das er für unbrauchbar hält. Was geht in einem solchen Kopf vor? Das wollte ich wissen. Das ist ja die Grundlage für einen spannenden Artikel.“
„Meinst du, dass Wespen Zähne haben, dass sie wie Termiten sich in ein Haus hineinknuspern können? Ich traue den Wespen zu, dass sie mit ihren Nestern die Spalten im Holz sprengen und sich durch die Ritzen hindurchzwängen. Sie sind derart trockene Wesen, dass sie sich im Holzig-Staubigen sicher besonders wohl fühlen.“ Die Frau war jetzt von ängstlicher Wissbegier überwältigt und klang weniger feindselig.
„Dies ist ein Betonhaus, mit Holz bloß als traditionelles Waldarbeiterhaus geschminkt. Hier hat man mit Brettern auf einen Betonkorpus einen regional-romantischen Türken gebaut; da sind wir übrigens wieder bei den Türken – ich beweise Instinkt mit meiner Türken-These, Türken sind aktuell.“
„Warum haben wir dieses Haus genommen?“, fragte die Frau. „Im Bad liegt eine Wuschelmatte in Hellblau, in die zwei sich küssende Delfine, aber von der scherzhaften Art, hineingewebt sind. Es ist mir jetzt schon ein Graus, barfuß auf diese Matte zu treten. War es nur die Entfernung vom Zeitungskiosk, die für dich maßgebend war, oder doch die Liebe zu den Wespen?“
„Die Wespen sind wahrscheinlich Bienen, hoch kultivierte Tiere, dem Menschen wahrscheinlich schon länger untertan und nützlicher als die Kuh“, sagte der Mann. „Ich würde gern eine Kulturgeschichte des Haustiers schreiben, aber darin müssten auch die Neandertaler vorkommen, und die Neandertaler waren so hässlich. Aber es muss ganz früh ein Bewusstsein dafür gegeben haben, dass Wespen-Totschlagen eine Wohltat und Bienen-Totschlagen ein Verbrechen ist – und das, obwohl beide gleichermaßen stechen und vom Allergologischen her ein Bienenstich mit einem Wespenstich durchaus vergleichbare Folgen haben kann – vor allem, wenn man die Biene versehentlich mittrinkt und sie in den Hals sticht – mein erster Beitrag für die Jugendecke der Regionalzeitung war die Beschreibung, wie man einen von einem Stich zugeschwollenen Hals durch einen Luftröhrenschnitt öffnet und den Spalt mit einer Kugelschreibermine offen hält – damals begannen Pfadfinder, Kugelschreiber in ihre Notapotheke zu packen, aber von den örtlichen Medizinern kam auch Kritik, sie fürchteten ein unsachgemäßes Taschenmessergemetzel an jugendlichen Hälsen.“
„Noch niemals hat irgendwer auf der Welt einen Ratschlag aus der Zeitung befolgt“, sagte die Frau, „jeder Leser weiß instinktiv, dass jede Art von Artikel meilenweit von jeder Art von Realität entfernt ist, reine Unterhaltung.“
„Es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Ich bemühe mich jedenfalls unablässig, Maßstäbe zur Erfassung der Wirklichkeit einfließen zu lassen. Jetzt, wo sich das Pontifikat Johannes Pauls II. seinem Ende entgegenneigt, wäre es lohnend, einmal zu untersuchen, wie sich mit welchem Ergebnis unter den Päpsten des 20. Jahrhunderts die Brillenträger von den Amtsträgern ohne Brille unterschieden haben. Jeder sieht sofort, dass die hohe, spitze Mitra des Papstes mit einer Brille schlecht zusammenpasst. Das Jahrhundert begann mit Pius X. zwar noch ohne Brille, der Weltkriegspapst allerdings trug schon Brille, Pius XI. und Pius XII. waren in einem Ausmaß Brillenträger, dass der Letztere auf seinem Denkmal sogar noch eine Bronze-Brille trägt, Johannes XXIII. zwar ohne Brille, dafür aber Paul VI. und Johannes Paul I. wieder mit Brille, und erst mit Johannes Paul II. klingt das Jahrhundert brillenlos aus.“
„Das willst du schreiben?“, fragte die Frau.
„Ich sammle noch Material“, antwortete der Mann.
„Ich fahre jetzt ins Dorf und komme erst zurück, wenn ich eine Zeitung habe.“
„Wie schade“, sagte der Mann. „Du störst mich überhaupt nicht bei der Arbeit. Ich finde, meine Aufsätze werden besser, wenn ich sie vorher irgendjemandem einmal mündlich vorgetragen habe. Man hört dann, wie die Idee klingt – wenn sie nicht auf einen Unbeteiligten wirkt, wie soll sie dann die Leser überzeugen? Bevor ich einen Artikel schreibe, muss ich ihn ausprobieren, indem ich mich über ihn unterhalte. Wenn ich ihn geschrieben habe, berühre ich das Thema nie wieder, erinnere mich auch nicht mehr daran, das ist dann wie ausgelöscht. Das ist gut, nicht wahr? Auf diese Weise werde ich dich nie langweilen.“
„Ist Auf-die-Nerven-Gehen in Wirklichkeit nicht auch sehr langweilig?“
Mit dem Mann konnte man sich nur schwer streiten. Je bösartiger man ihn angriff, desto freundlicher wurde er. Das sei professionell, hatte er der Frau gelegentlich erklärt. Angriffe müsse man stets als „Stoff“ betrachten, und Stoff sei stets willkommen. Wo bleibe ein Artikel ohne Stoff? Eine Weile gehe das gut, aber irgendwann fordere der Leser wieder feste Nahrung, auch wenn er sie augenblicklich wieder ausscheide.
„Ich war vor unserer Abreise noch auf einem Kongress, einer Begegnung zwischen Schriftstellern und Managern. Es ging darum, dass Schriftsteller die Arbeitswelt kennen lernten, für die sie sich überhaupt nicht interessieren, denn sonst wären sie schließlich nicht Schriftsteller geworden. Manager, die nicht lesen, und Schriftsteller, die nicht arbeiten, sprachen über das, was sie zusammenmachen könnten. Schließlich erhob sich ein zorniger Schriftsteller und rief in den Saal: ‚Wir sollen hier zu Feigenblättern gemacht werden, die Ihnen hinterherlaufen!‘, und daraufhin erhob sich ein Manager und replizierte ebenso leidenschaftlich: ‚Wir sind nicht aus dem Holz geschnitzt, in das Sie uns hier hereindrücken wollen!‘ Wenn dieser Dialog nicht stattgefunden hätte, hätte ich nichts gefunden, worüber zu berichten gewesen wäre. Dieser Dialog trug meine gesamte Glosse sogar noch, als er in der Schlussredaktion gestrichen wurde.“
„Gib mir den Autoschlüssel“, sagte die Frau, die sich während seiner Worte mit Schals und Pullovern vermummt hatte. „August in der Schweiz“, sagte sie höhnisch.
„Wie heißt es über den Winter bei Matthias Claudius: … doch hat er auch ein Sommerhaus im schönen Schweizer Lande“. Bemerkte er, dass die Frau das Zimmer verlassen hatte? Er sprach jedenfalls weiter, als ob sie ihm immer noch lausche.
„Die Schweiz bietet überhaupt Anlass zu wundervollen Studien. Ich habe in Basel einmal im Hotel der Blaukreuzler, der Antialkoholiker gewohnt, darüber will ich meine Reiseblatt-Reportage machen, nachdem die Zeitung mir die Argentinien-Reise gestrichen hat. Eine Antialkoholikergruppe zelebrierte im Blaukreuz-Saal einen Tango-Abend. Rote Birnchen brannten überall, auf den Tischen standen die Limonadenflaschen, und zu den lasterhaftesten Liedtexten schoben sich die jungen und mittelalten Paare in komplizierten Figuren durch den Saal. Das Tango-Laster mit Promiskuität und Messerstecherei war ein Kulturgut geworden, das temperenzlerische Freizeitgestaltung untermalte – in meiner Reportage möchte ich diesen Abend als Inbegriff alles Schweizerischen, als Inkarnation der Helvetia erscheinen lassen. Die Schweiz auf den Punkt bringen – das soll mein Ehrgeiz bei dieser Reportage sein.“
Dass die Frau nicht antwortete, gab den Worten einen größeren Hall, sie schwebten eine Weile wie Zigarettenrauch im Zimmer.
„Es gibt nur ein Problem: Ich habe mit einem Mann dort ein Gespräch geführt, ich wollte ihn fragen, ob er glücklich sei, ob das Tango-Tanzen und Mit-den-Beinen-Winken ihn glücklich mache, und darauf antwortete er mit großem Ernst, es komme nicht darauf an, glücklich zu sein. Worauf es denn ankomme, war meine augenblickliche Frage, und daraufhin sagte er etwas sehr Interessantes, was mich vollständig befriedigte, was ich aber leider vergessen habe – meinst du, das darf ich einfach irgendwie ergänzen?“
Von woher war die Wespe in das inzwischen recht stickige Zimmer eingedrungen? Draußen war es beinkalt, aber die Sonne schien durch die Scheiben und ließ die Tischplatte regelrecht heiß werden – „Treibhauseffekt“, dachte der Mann zufrieden. Die Wespe war wirklich eine Wespe, jetzt konnte er sie in Ruhe diagnostizieren. Sie war etwas betäubt und gekrümmt und zusammengeschnurrt und kroch zwischen den Papieren umher wie durch eine Schneewüste. Gar nichts gab es dort zu naschen. Eine dunkle Wolke schob sich über sie; die Wespe hielt inne, fand aber nicht den Schwung zum Abflug. Dann klatschte die Katastrophe auf sie herab. Die Frau war von hinten mit einer zusammengerollten Zeitung an den Tisch herangetreten und hatte die Wespe zermalmt. Der Mann sah sich um; er war verwirrt.
„Bist du so schnell zurück?“
„Ich musste zum Glück nicht ins Dorf fahren. Im Kofferraum lag noch eine Zeitung, zum Wespen-Erschlagen braucht man ja keine von heute.“