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Archiv-Artikel

„Es geht um die Aufwertung der Eigengruppe“

Wilhelm Heitmeyer sagt, dass Menschen Aversionen hegen, um nicht selbst am gesellschaftlichen Rand zu stehen

taz: Herr Heitmeyer, schon vor etwa zehn Jahren haben Sie Umfragen zu islamistischen Tendenzen unter jungen muslimischen Migranten veröffentlicht – nun ist das Thema angesichts der Diskussion um die multikulturelle Gesellschaft in aller Munde. Hätte man früher auf Sie hören sollen?

Wilhelm Heitmeyer: Es zahlt sich immer aus, wenn man unbeirrt Probleme frühzeitig benennt. Die Frage ist, ob diese Gesellschaft lernfähig ist, auf Anzeichen früh zu reagieren. Ich habe meine Zweifel, denn als ich Mitte der 80er-Jahre Ergebnisse zu rechtsextremen Einstellungen unter Jugendlichen vorgelegt habe, wurde das damals auch verdrängt.

Was halten Sie vom Niveau der aktuellen Diskussion über die multikulturelle Gesellschaft?

Die Diskussion ist ziemlich schief. In den Mittelpunkt gehört meines Erachtens eine Debatte um die Integrationsqualität dieser Gesellschaft. Wo erfahren gesellschaftliche Gruppen Anerkennung? Denn je größer die Desintegrationsgefahren und das Gefühl fehlender Anerkennung für Teile der Mehrheit werden, desto schwieriger werden die Integrationschancen für Migranten. Außerdem sollte die Toleranzdebatte aufhören, weil es eine einseitige Angelegenheit ist. Man muss über Anerkennungsverhältnisse debattieren, das ist ein wechselseitiger Prozess. Zudem sind die Migranten viel zu wenig beteiligt, weder in den öffentlichen Diskursen, noch gibt es hinreichend selbstkritische Debatten in Migrantengruppen.

Zum dritten Mal haben Sie nun Zahlen zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ vorgelegt, wonach der Hass auf Minderheiten – egal ob Schwule, Muslime, Juden oder Obdachlose – zunimmt. Woher kommt diese Entwicklung?

Man muss die Entwicklung differenziert sehen. Die Ablehnung von Muslimen nimmt in der Tat zu, auch werden die rechtlichen Fortschritte für Schwule mit zunehmenden Aversionen im Alltag begleitet. Der klassische Rassismus, also das, was über Hautfarbe etc. artikuliert wird, nimmt eher ab, aber die auf Konkurrenz basierende Fremdenfeindlichkeit deutlich zu. Auffällig sind auch die steigenden Forderungen nach Entfernung von Obdachlosen aus Fußgängerzonen. Es gibt eine deutliche Entwicklung: Dort, wo soziale Desintegrationsgefahren erfahren und verbunden sind mit der Wahrnehmung sozialer Spaltung, steigen die Werte. In desintegrationsgefährdeten Gruppen wirkt die wahrgenommene soziale Spaltung geradezu als Verstärker für menschenfeindliche Abwertungen. Es geht dann um alles, es geht um die Aufwertung der Eigengruppe, um sich nicht selbst am unteren Rand der Gesellschaft verorten zu müssen.

Ein Beispiel ist der Antisemitismus: Er sickert nach Ihrer Analyse in die Gesellschaftsgruppe ein, die sich selbst als Mitte der Gesellschaft definiert – wie kommt das? Steckt dahinter Angst?

Es sind in der Tat in hohem Maße Menschen, die sich selbst in der politischen Mitte einordnen. Hinzu kommt die Umwegkommunikation über die Kritik an der Politik Israels gegenüber Palästinensern, die dann in Ressentiments einmündet. Gerade dies ist ein Problem, weil dadurch die bisher doch recht erfolgreiche Vorurteilsrepression im öffentlichen Diskurs erodieren könnte. Je mehr Menschen aber in der Mitte nun plötzlich unverkrampft es ablehnen, an die Verbrechen der Nazis erinnert zu werden, desto eher könnten Eliten verstärkt versucht sein, an solchen Stimmen anzuknüpfen, zumal wir ein rechtspopulistisches Potenzial von zirka 25 Prozent ermittelt haben.

Mittlerweile meinen etwa zwei Drittel der Gesellschaft, es gebe zu viele Ausländer in Deutschland, und etwa ein Drittel will sogar die Abschiebung von Migranten, um Arbeitsplätze für Deutsche zu sichern. Das ist eine NPD-Position. Hat die NPD also gute Chancen, in den Bundestag einzuziehen?

Ob die NPD Chancen hat, ist schwer zu sagen, aber es gibt sicher Probleme, je mehr solcher Positionen in der Bevölkerung geteilt werden. Zum anderen bemüht sich die NPD, an die Alltagsprobleme anzuknüpfen, und stellt die Zukunft der Gesellschaft in einen völkischen Kontext. Dadurch geraten andere in große Probleme, da nicht mehr klar ist, wohin sich diese Gesellschaft entwickelt. Wenn diese Debatten dann noch in einem homogenen sozialen Kontext, wie in Teilen Ostdeutschlands, ablaufen, bestehen Gefahren von Verstärkereffekten.

Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie nehmen zu – und Ihre Daten stammen vom Sommer, also noch vor der Debatte über den Mord an van Gogh. Sind noch schlimmere Daten zu erwarten?

Wir können dies nicht ausschließen, aber wichtiger ist die Frage, wie stabil solche Einstellungen sind. Leider zeigen sie sich in unseren Wiederholungsuntersuchungen als ziemlich stabil.

Was kann man generell tun, um den Hass auf Minderheiten zu verringern? Wird er einfach immer weiter zunehmen, je weiter sich die Gesellschaft neoliberal umformt?

Dies lässt sich nicht schnell beantworten, weil sich Teile der Gesellschaft gegen ihre eigenen Vorurteile quasi immunisieren. Die Sozialpsychologen unseres Instituts nennen das „Schuldumkehr“. Fast 47 Prozent sagen: „Die Ausländer sind selbst schuld, wenn man was gegen sie hat.“ Auf diese Weise produziert man Hass und verschiebt ihn auch noch. INTERVIEW: PHILIPP GESSLER