: „Unter Integration versteht jeder etwas anderes “, sagt Marieluise Beck
Migranten sind noch nicht überall in der deutschen Gesellschaft angekommen. Ein Grund dafür sind fehlende Angebote
taz: Frau Beck, ihre Kollegen von Beck bis Schily beklagen derzeit unisono die mangelnde Integration von Migranten. Haben Sie als Integrationsbeauftragte versagt?
Marieluise Beck: Da wird ja überhaupt nicht definiert, was Integration sein soll: Jeder versteht darunter etwas anderes.
Was verstehen Sie darunter?
Ich übernehme gerne die Definition meines Vorvorgängers Heinz Kühn aus dem Jahre 1979: Integration meint die Möglichkeit zur Einbürgerung, Rechtsgleichheit, Chance auf Teilhabe, Zugang zum Arbeitsmarkt, zu den Institutionen, zu Bildung sowie eine Identifikation mit dem Grundwerte-Konsens dieser Gesellschaft.
Und woran hapert es?
Die Bildungsabschlüsse vieler Migrantenkinder sind alarmierend schlecht. Allerdings nicht nur der türkischen Kinder und Jugendlichen, sondern auch der italienischen, bei denen oft davon ausgegangen wird, dass es keine Integrationsprobleme gibt. Das ist ein soziales, kein ethnisches Problem. Und eine Aufgabe von Sozial- und Arbeitsmarktpolitik.
Was haben Sie für Konzepte gegen diese Bildungsmisere?
Frühförderung im Kindergartenalter und mehr Ganztagsbetreuung in der Schule sind für Migrantenkinder wichtig. Wir wissen, dass der überwiegende Teil der Zuwanderer aus bildungsfernen Schichten gekommen ist. Daher brauchen sie mehr Zeit in unserem Bildungssystem. Wichtig ist es auch, diese Kinder durchgängig in Deutsch als Zweitsprache zu fördern.
Wie trägt das neue Zuwanderungsgesetz zur besseren Integration bei?
Das Zuwanderungsgesetz nimmt eine Facette der Integrationspolitik auf, die Sprachförderung. Zukünftig kann und muss jeder Zuwanderer nach der Einreise einen Deutschkurs und einen Orientierungskurs in Gesellschaftskunde absolvieren.
Wie wurden die Sprachkurse bisher angenommen?
Es gab immer eine größere Nachfrage als Angebote, und lange Wartelisten – besonders für zielgruppenspezifische Angebote wie etwa „Mama lernt Deutsch“.
Und kommen die Frauen auch in die Kurse?
Mehr als 70 Prozent der Teilnehmer waren schon bisher Frauen. Sie sind oft bildungsbeflissener als die Männer. Gerade den Frauen kommt die künftige Ausweitung des Kursangebots entgegen.
Wie fanden Sie den Auftritt von Herrn Beckstein bei der Demonstration in Köln und seine Aufforderung zum Dialog?
Nicht ganz umsonst ist Herr Beckstein da zunächst ausgepfiffen worden. Man muss sich klar machen, dass am selben Wochenende die CSU auf ihrem Parteitag einen anderen Ton angeschlagen hat und die EU-Verhandlungen mit der Türkei abgelehnt hat – mit der Begründung, dass die Türkei auch kulturell nicht zu Europa gehören könne. Es ist schon erstaunlich, dass Herr Beckstein diesen Spagat hinbekommt und dann, wenn er den Menschen real gegenübersteht, erklärt: Ihr könnt zu uns gehören.
Was halten Sie von der aktuellen Multikulti-Debatte?
Notwendig wäre mehr Gelassenheit, Geduld und Zähigkeit. Wir brauchen eine kleinteilige und langfristige Arbeit für die Integrationspolitik. Große Debatten helfen vor Ort nur wenig.
Sind Migranten denn in der deutschen Gesellschaft angekommen?
Nicht überall. Schauen wir nur einmal auf die Parlamente: Ich würde mir wünschen, dass dort viel mehr Migranten als Parlamentarier säßen, und zwar von der Gemeindeebene bis zur Bundesebene. Einwanderung ist in unseren Parlamenten kaum sichtbar. Das ist die Spätfolge unseres rigiden Staatsbürgerschaftsrechts, das wir im Jahr 2000 reformiert haben. Oder betrachten wir die Bereiche Polizei und Schule, wo die Kenntnisse von Migranten wichtig wären. Das Beamtenrecht verhindert hier die interkulturelle Öffnung. Wir haben zwar einen Migrantenanteil von rund neun Prozent in Deutschland, im öffentlichen Dienst sind es aber nicht einmal drei Prozent – und die finden Sie vor allem in den wenig qualifizierten Bereichen.
Zwangsehen unter muslimischen Migranten seien ein alltäglicher Skandal, schreibt der „Spiegel“. Haben Sie das Elend dieser Frauen übersehen?
Die Konflikte durch das Aufeinandertreffen von religiös-konservativen und ländlichen Wertvorstellungen und den Freiheiten einer modernen Gesellschaft spiegeln sich sehr stark innerhalb vieler Familien wider. Wir wissen, dass es dramatische Auseinandersetzungen für junge Frauen gibt, die städtisch-modern aufwachsen, in ihrem häuslichen Umfeld aber auf ländliche, religiöse Wertvorstellungen treffen. Aber wenn die Debatte darüber nicht nur unserer eigenen Befriedigung dienen soll, dass es uns doch so viel besser geht, dann müssen wir uns fragen, was wir ihnen anbieten können, um ihre Position zu stärken.
Was wäre das?
Mein Credo ist Empowerment, also Zugang zu Bildung, Zugang zu Ausbildung und zum Beruf. Nichts fördert die Emanzipation mehr als Ausbildung und ein eigenes Einkommen. Auch Beratungsstellen und Schutzräume für Frauen, wie Frauenhäuser sie bieten, sind wichtig. Wir müssen Frauen die Sicherheit geben, dass sie in der deutschen Gesellschaft auch wirklich aufgenommen werden, wenn sie in einem Konflikt mit ihrer Familie stecken. Dann muss klar sein, dass die deutsche Gesellschaft die Frauen nicht zurückweist.
INTERVIEW: EDITH KRESTA