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Archiv-Artikel

Tschernobyl-Effekt unterschätzt

Bisher glaubten die meisten Forscher, der ukrainische Atomunfall habe das Krebsrisiko in Nordeuropa nicht erhöht. Nun zeigt eine Studie: Mehr als 800 Schweden erkrankten

STOCKHOLM taz ■ Nach dem 26. April 1986, dem Tag, als der Reaktorblock 4 im ukrainischen Tschernobyl explodierte, gingen über weiten Teilen Europas radioaktive Substanzen nieder. Fünf Prozent des strahlenden Cäsiums 137, das durch den Unfall freigesetzt worden war, gelangten nach Schweden. Infolgedessen, so sind sich jetzt ForscherInnen der Universitäten Linköping und Örebro sicher, erkrankten 849 SchwedInnen an Krebs. In einigen Regionen stieg die Krebsrate um satte 20 Prozent. Diese Ergebnisse einer mehrjährigen Studie sind in der Dezemberausgabe der britisch-spanischen Journal of Epidemology and Community Health veröffentlicht.

Leif Moberg, Tschernobyl-Experte beim staatlichen schwedischen Strahlenschutzinstitut SSI, nannte die Ergebnisse „sensationell“, falls sie einer näheren Prüfung standhielten. Bislang sei gängige Forschermeinung gewesen, dass die in Schweden relativ „schwachen“ Cäsium-Mengen kaum zu statistisch nachweisbaren gesundheitlichen Auswirkungen führen würden.

Doch haben die Wissenschaftler von 1988 bis 1996 1,14 Millionen EinwohnerInnen der sieben nördlichsten Provinzen Schwedens untersucht. Von ihnen erkrankten in dieser Zeit 22.400 an Krebs. Dabei gab es von Region zu Region Unterschiede. Je nachdem wie viel Regen fiel, schwankte der Cäsium-Niederschlag nämlich zwischen weniger als 3 bis über 120 Becquerel pro Quadratmeter. Und in den Gebieten mit relativ hoher Belastung lag die Erkrankungsrate bis zu einem Fünftel höher als in den schwach betroffenen Vergleichsregionen.

„Eigentlich sollte man diese Resultate bei den allgemein niedrigen Dosen nicht bekommen“, sagt Strahlenexperte Moberg mit deutlicher Skepsis. „Außerdem entwickelt sich Krebs langsamer. Bis man Ergebnisse sieht, dauert es sonst mehrere Jahrzehnte.“ Das Strahlenschutzinstitut SSI war von allenfalls 300 zusätzlichen Krebserkrankungen in 50 Jahren nach Tschernobyl ausgegangen.

Für Forscher Tondel von der Universität Linköping ist der statistische Zusammenhang zwischen den hoch belasteten Regionen und dem am deutlichsten gestiegenen Krebsrisiko eindeutig. „Wir waren selbst verblüfft“, sagt der Umweltmediziner: „Wie wir es auch drehen und wenden und welche Arten von Krebserkrankungen wir zugrunde legen, der generelle Strahleneffekt ist einfach da.“

In dem am schlimmsten von Cäsium betroffenen Gebiet um die Stadt Gävle habe es mit 386 Krebsfällen 68 mehr gegeben als nach der allgemeinen Statistik zu erwarten. Im Durchschnitt ist das Krebsrisiko im untersuchten Gebiet um 11 Prozent gestiegen. Die VerfasserInnen der Studie legen laut Forscher Tondel ihre Ergebnisse so aus, dass eine bereits vorhandene Anlage zur Krebsentwicklung durch die zusätzliche Tschernobyl-Strahlenmenge verstärkt worden sei.

Leif Moberg bleibt dennoch skeptisch: „Dann müsste man eigentlich Unterschiede bei Tumorformen sehen, von denen wir wissen, dass sie eher von radioaktiver Strahlung verursacht werden als andere“ – Leukämie oder Schilddrüsenkrebs etwa. Diese Unterschiede gebe es aber seltsamerweise nicht.

Zweifel an den Ergebnissen der seit vier Jahren abgeschlossenen Studie waren es auch, die bislang eine Veröffentlichung in einer medizinischen Fachzeitschrift verhindert haben sollen. Forscher Tondel: „Man hat uns nicht geglaubt, weil unser Bericht allem widerspricht, was bislang dazu veröffentlicht worden ist.“ Und er schließt nicht aus, dass noch höhere Krebsraten ermittelt würden, wenn die Studie weitergeführt werde.

REINHARD WOLFF