: Der öffentliche Phantomschmerz
Ein junger Mann tapezierte halb Friedrichshain, um seine Linda wieder zu bekommen. Nunwerden seine Appelle im Museum für Kommunikation gezeigt – und die Geschichte von Lindas Ex
VON JENS GERDES
Wenn ein schwer verliebter Junge von seinem Mädchen verlassen wird und die Liebste fortan jeglichen Kontakt rigoros verweigert, wenn die Zeit einfach nichts heilen will und die nicht erwiderte Zuneigung sich allmählich zur Besessenheit steigert, dann setzt die Verzweiflung mitunter beeindruckende Kräfte frei.
Lindas Exfreund hat einen ganzen Stadtteil an seiner Wunde teilhaben lassen. Er hat Siebdrucksticker geklebt, Schablonenmuster gesprüht, Scherenschnitte gebastelt, Kreidezeichnungen gekritzelt. Zwischen Warschauer Straße und Ostkreuz hat er sich verbreitet, immer ausgehend vom Boxhagener Platz – dem Herzen des Südkiezes von Friedrichshain. Zweimal wöchentlich hat er Plakate gekleistert, mindestens hundert Stück in einer Nacht, manchmal vierhundert. Mal waren es einzelne Poster, mal überlebensgroße Collagen aus vielen detailverliebt ausgestalteten Bogen. Nicht einmal eisige Winternächte konnten ihn davon abbringen, und wenn der Kleister trotz reichlicher Beigabe von Salz gefror, bevor die Poster klebten, wurden eben Holzbilder festgeschraubt.
Der Tenor war immer der gleiche: Linda, ich leide. Komm zurück. Rede mit mir. Die Ausgestaltung war vielfältig. Intim, anrührend, tragisch. Pathologisch. Abstoßend. Aber immer blieben die Informationen fragmentarisch. Die Werke selbst waren nur von geringer Haltbarkeit. An ihnen kristallisierten sich die Typen von Einwohnern heraus. Der Hausmeister-Typus: Das Zeug muss weg, es verunreinigt Tore und Wände. Der politisch Korrekte: frauenfeindlich, zerreißen oder Aufkleber drauf, „Sexismus erkennen und bekämpfen“. Der Undergroundkunst-Freund: Das ist schön, es soll einen Platz in meiner Wohnung bekommen.
Straßenkünstler reagierten mit antwortenden Arbeiten. Plakate wurden abgenommen, bearbeitet, wieder aufgehängt. Passanten hinterließen schriftliche Kommentare: Manche äußerten genervt ihren Unmut. Andere lobten das Ästhetische der Kreationen. Die meisten bekundeten ihr Mitleid für den Verlassenen. Die ungewohnte öffentliche Erscheinung sublimierten privaten Leids schien viele Menschen zu bewegen, und das scheint umso erstaunlicher, als doch niemand irgend etwas Genaueres wusste. Lediglich die Protagonisten waren bekannt, und auch das nicht so richtig: Da war also Linda, eine Figur, deren vollkommene Abwesenheit überhaupt erst die Voraussetzung für die ganze Geschichte bildet. Und darauf bezogen gab es dann Lindas Exfreund, ein Charakter, dessen Machtlosigkeit sich nur über verzweifelte Aktivität artikulieren konnte. Als mutierte Figur in verfremdeten Bildern, auf die Zentren des Leidens reduziert. Lindas Ex mit Igeln im Bauch, Lindas Ex mit Kastanien im Kopf, Lindas Ex erwägt mehrfache Selbstamputationen als „ent-Linda-programm“. Dazu die kurzen Texte, oft nur einzelne Wörter und stets in fragiler Kinderschrift.
Er war reine Obsession
Jemand schrieb auf eines der Bilder: „Lieber Lindas Exfreund, ich freue mich sehr über jedes schöne Plakat, aber denk doch auch mal an dich.“ Das richtete sich an Roland Brückner. Er ist „Lindas Ex“. Und er dachte nicht daran, an sich zu denken, er war reine Obsession. Zwei Nächte in der Woche verteilen. Tagsüber produzieren. Kaum noch Sonnenlicht, ständig übermüdet, Zahnfleischbluten. Nur: Linda gibt es nicht. Und hat es nie gegeben. Das haben sicher viele vermutet, aber Zweifel blieben in jeder Hinsicht. All die Mühe, solch eine Manie kurz vor der totalen Selbstaufgabe – da musste es doch um Existenzielles gehen! Das macht doch keiner einfach so.
Jemand wie Roland Brückner macht das einfach so. Mit 20 Jahren hat er seinen Zivildienst in einer Wohngruppe für geistig Behinderte absolviert und dabei viel mit seinen Betreuten gebastelt. Auch zu Hause hat er damals gebastelt – an einer Kunstfigur namens „Lindas Ex“. Besonders emotional geleitet war das nicht, eher abstrakt. Fast schon wissenschaftlich, findet er selbst. „Ich habe fast täglich Soaps und Talkshows analysiert und Unmengen von Zitaten in meine Arbeit einfließen lassen.“
Der Fotograf Andreas Göx war Linda und ihrem Ex von Anfang an auf der Spur. Eines der ersten Graffito war ihm aufgefallen. Ein riesiges Messer in der Stirn eines traurigen Frauenkopfes. Göx fühlte: Zerrissenheit, Schmerz, Verlust, Hoffnung, DDR. Eine Schautafel der Fleischerei nebenan pries ein Schild billige Soljanka. Er fotografierte fortan nahezu alles, was auf Linda hinwies. „Dicht an der Wand, aber immer mit Blick auf die Umgebung“, wie er sagt. Und sehr bald nahm er auch wahr, dass sich hier eine besondere Art der Kommunikation entwickelte.
Durch Zufall bekam Roland Brückner mit, dass Andreas Göx seine Bilder fotografierte. In einem Bild adressierte er Göx direkt. Etwas mehr Kommunikation, als diesem angenehm war. Denn er hatte ja keine Ahnung, wer sich wirklich hinter den Plakaten verbarg: „Das war kurzzeitig eine paranoide Situation.“ Aber schon bald darauf rief Brückner bei Göx an.
Das war letztes Jahr. Roland Brückner studiert jetzt Kunst und macht gerade eine leicht schmerzhafte Trennung durch: Er hat beschlossen, nach rund tausend verschiedenen Arbeiten mit der Linda-Geschichte aufzuhören. Andreas Göx hat mehrere tausend Bilder davon gemacht. Einige davon stellt er gegenwärtig im Museum für Kommunikation aus. Auf die Eröffnung wurde wiederum per Plakat hingewiesen. An vielen Stellen in Friedrichshain war zu lesen: „Morgen Nacht kocht er!“ Und: „nie wieder Lindas idiotischer Ex“. Am Abend darauf waren die Ausstellungsräume voll mit Menschen.
Bleibt noch eine letzte Frage. Warum Linda? Roland Brückner grinst. „Ich komme aus Lindau am Bodensee.“
„tracing Linda“. Noch bis 21. November im Museum für Kommunikation Berlin, Leipziger Straße 16, 10117 Berlin. Geöffnet: Dienstag bis Freitag von 9 bis 17, Samstag und Sonntag 11 bis 19 Uhr