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Da darf jeder mal ran

Das Wissen der Menschheit ist komplex. In der Online-Enzyklopädie Wikipedia wird es nun von allen für alle Menschen aufgeschrieben. Je mehr Köche, desto besser der Brei?

VON FLORIAN HÖHNE UND PATRICK GRIESSER

Wissen ist Macht. Wer aber macht Wissen? Bei der Online-Enzyklopädie Wikipedia gibt es darauf nur eine Antwort: Alle. Offen ist aber, ob sie alle auch tatsächlich wissen, was sie machen. Rund 4.000 registrierte Autoren arbeiten heute an der deutschsprachigen Version. Es werden immer noch mehr, und auch bei den Nutzern steigt die Beliebtheit von Wikipedia: Allein im Juni bewegten sich jeden Tag etwa 120.000 Benutzer auf den Wikipedia-Seiten.

Zwischen den Stichworten „Aal“ und „Zypresse“ finden sich fast 120.000 Einträge. Zugangsvoraussetzung ist allein der Internetanschluss. Die Qualität der Einträge hängt von der Qualität der Autoren ab. Das Konzept ist denkbar einfach und wirkungsvoll: Jeder kann mitschreiben und die Korrektur liegt ebenfalls in der Hand aller.

Die Idee dazu stammt aus der Open-Source-Bewegung. Open-Source funktioniert wie ein öffentlicher Acker, der von vielen bearbeitet wird: Jeder kann pflanzen, gießen und ernten. Wie beim öffentlichen Acker kann jeder auf den hier gewachsenen Programmcode zugreifen. Das Ziel ist eine stetige Verbesserung der Anwendung. Bekanntestes Beispiel ist der Kern des Betriebssystems Linux. Bei Wikipedia geht es dagegen nicht um Anwendungen, sondern um Wissen. Während den Gemeindeacker der Open Source nur wenige Programmier-Spezialisten überhaupt verstehen, kann bei Wikipedia jeder Besucher etwas zu einem Thema seiner Wahl beitragen. Offener Inhalt heißt das, und die Hemmschwelle vom ersten Lesen zum selbst verfassten Beitrag ist mit Absicht niedrig gehalten: Kurz ein Fenster im Browser aufrufen und dann schreiben, schreiben, schreiben.

Denn noch sind die Lücken groß, die mit Artikeln gefüllt werden könnten. Was ist ein „Eckenbrüller“ ? Andere, dem Duden unbekannte Worte kommen hingegen schon vor: „Wikiwiki“ zum Beispiel. Das ist Hawaiianisch und heißt „schnell“. Der Name verpflichtet: Wer bei Wikipedia etwas zu einer Sache schreiben möchte, kann sich flott in die lange Liste der Autoren einreihen. Getreu einem weiteren Motto von Wikipedia: „Sei mutig!“

Doch da liegt auch einer der Fallstricke. Selbst wenn Kurt Jansson, Wikipedia-Sprecher und Mann der ersten Stunde bei der deutschsprachigen Ausgabe, spontan einen Eintrag zum „Eckenbrüller“ verfasste, wäre damit noch nicht erwiesen, dass der Artikel auch brauchbar ist. Die Qualität eines Computerprogramms kann danach beurteilt werden, ob es seinen Zweck erfüllt. Doch wie kann der Benutzer des Lexikons die sachliche Richtigkeit eines Eintrags erkennen? „Eine Säule der Verlässlichkeit ist, dass sich jeder Autor auf den neutralen Standpunkt verpflichtet“, antwortet Kurt Jansson. Nicht die Meinung des Autors zähle, sondern eine ausgewogene Darstellung. Ob dieser Standpunkt eingehalten wurde und ob der Eintrag auch in der Sache stimmt, sei mit einem genauen Blick zu beurteilen. „Leser können sich an Kriterien halten, wie den Stand der Diskussionsseite, die zu jedem Artikel existiert. Und sie können einen Blick in die Versionsgeschichte werfen. Artikel, an denen schon lange und intensiv von mehreren Autoren gearbeitet werde, sind in der Regel vertrauenswürdig.“

Das macht das Nachschlagen bei Wikipedia arbeitsaufwändiger und spannender – Medienkompetenz ist gefragt. Um die Arbeit an einzelnen Artikel anzuregen, haben die über 80 Administratoren gleich mehrere Mechanismen eingebaut. In Listen werden unter anderem Artikel aufgeführt, die verbessert, erweitert oder ausformuliert werden müssen. Eine eigene Liste enthält Artikel, die den neutralen Standpunkt vernachlässigt haben. Zusätzlich wurde eine Qualitätsoffensive gestartet: Themen wie das „Römische Reich“ als beispielhaft vorgestellt, oder auch auch besonders gelungene Einzelartikel, etwa der Text zum Song „Strange fruit“ von Billie Holiday.

Es geht um den ehrgeizigen Anspruch des Projekts, das in deutscher Sprache erst seit Mai 2001 online ist: „Wir wollen das Wissen der Welt der Menschheit zugänglich machen“, sagt Jansson. Gerne wird Wikipedia mit einer gedruckten Enzyklopädie verglichen.

Wenn es nach einer Sprecherin des Brockhaus-Verlages geht, dann sind Wikipedia und die Wissensbände für das Bücherregal aber nicht vergleichbar: „Der Brockhaus steht für objektiv gesichertes Wissen, dafür garantieren etwa 1.000 wissenschaftliche Mitarbeiter und unsere Redaktion.“

In der für kommendes Jahr angekündigten 30-bändigen Brockhaus-Enzyklopädie sollen Einträge zu 300.000 Stichworten verzeichnet sein. Will das deutsche Wikipedia-Projekt ähnliche Dimensionen erreichen, ist die rege Beteiligung der Nutzer notwendig. Jansson: „Eine weitere Wikipedia-Säule ist der Mut jedes Nutzers, Seiten zu verändern und mitzumischen.“ Das klingt nicht nur nach dem Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant, das ist auch Kant: Der Ausgang des Users aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit in Form eines Internetprojekts. „Habe Mut, deinen Verstand zu gebrauchen“, formulierte Kant. „Je mehr Wissen die Leute haben, desto mündiger werden sie. Das Ziel ist die informierte Entscheidung“, sagt Jansson.

Aber es gibt auch weniger Kant’sche Gründe, sich bei Wikipedia zu beteiligen. Die persönliche Reputation innerhalb des Projekts zum Beispiel. So sei es für den anerkannten Biologieexperten beflügelnd, zu Rate gezogen zu werden, hat Jansson erfahren, wenn es um Zellen oder den Kuckuck geht. Den Hobbyhistoriker motiviere vielleicht die Herausforderung, die Wirren der Französischen Revolution auf den Punkt zu bringen.

Auf dieser breiten Grundlage von Freizeitexperten und gutwilligen, professionellen Fachleuten kann sich Wikipedia verhalten wie ein Algenteppich bei Sonnenschein: Er wächst mit der Begeisterung der Nutzer, die sich jeder offenen Frage widmen. Doch wie beim Algenteppich besteht auch hier die Gefahr des Wildwuchses. Die Frage, ob es sich bei dem jeweiligen Eintrag um streng sachlich gesichertes Wissen handelt oder ob der persönliche Standpunkt des Autors nicht doch in den Beitrag hineinspielt, ist wohl nie endgültig entscheidbar. Das weiß auch der Vorstand des kürzlich gegründeten Wikipedia-Vereins. „Wikipedia liefert ein Abbild der Wirklichkeit. Wenn im Nahen Osten ein Krieg tobt, dann prallen auch bei Wikipedia zu diesem Thema Meinungen aufeinander. Geradezu ein „Schandfleck“, räumt Jansson ein, sei der Artikel zum Thema Pädophilie. Die Forderung eines neutralen Standpunkts erwies sich hier als unerfüllbar. Umso länger ist dafür die dokumentierte Diskussion. Immer wieder werden neue Versionen dieses Artikels veröffentlicht. Umstritten sind meist nur Satzfragmente.

Die ewige Wiederkehr des Gleichen immerhin beweist, dass die Administratoren bei Wikipedia auf Einsicht statt auf Eingriffe setzen. Teilnehmer auszuschließen sei nur der letzte Schritt, sagt Kurt Jansson. „Da diskutieren Pädophile mit Kinderschützern.“ Die moralische Bewertung der Pädophilie könne daher nur ein Aspekt des Themas sein – und auch Minderheiten dürfen zu Wort kommen. Schon die französischen Enzyklopädisten glaubten nicht, dass ein für allemal feststehe, was der Mensch wissen könne. Hier nun gerät die Enzyklopädie gelegentlich zur Plattform der Kontroverse. Es sind gar nicht die groben Eingriffe vonseiten eindeutig interessierter, ideologischer Leser, die zu endlosen Diskussionen führen. Sie werden von aufmerksamen Administratoren, Autoren und Nutzern schnell behoben. Weit wichtiger – und der Sache dienlicher – ist die subtile Darstellung der „nicht mehrheitsfähigen Meinung“, wie sich Jansson ausdrückt. Genau darin aber liegt der Vorzug der Enzyklopädie des offenen Inhalts, der ihr stetiges Wachstum garantiert.

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