piwik no script img

Archiv-Artikel

Am Dreck gestorben

Über die Hälfte von Russlands Erdöl wird im autonomen Bezirk der Chanten und Mansen gefördert. Als Folge davon verlieren die „kleinen Völker des Nordens“ ihre Traditionen. Ein Umdenkprozess hat begonnen, doch noch schwimmen Taiga und Tundra in Öl

VON VERA THÜMMEL

Es ist kurz vor ein Uhr nachts und noch immer umhüllt das sanfte Licht der Dämmerung das niedrige Blockhaus mit dem kleinen Fenster. Draußen schlägt Kutschi an. „Er wird wohl einen Bärgewittert haben“, sagt Kolja. In seinem Haus, gebaut aus massiven Holzbalken ohne einen einzigen Nagel, ist es warm. Zwischen die Querbalken ist Moos gestopft. Das Feuer im Ofen knistert und die Tür ist angelehnt, Türklinken gibt es im Blockhaus nicht. Der Taigawald färbt sich langsam schwarz.

Hier im Blockhaus ahnt man nichts von den Feuer speienden Ungetümen draußen. Gigantische Ölförderungsanlagen, die mit ihren Tag und Nacht brummenden Bohrtürmen und dem als Nebenprodukt herausströmenden Gas, das in die Atmosphäre verbrannt wird, bestimmen das Bild der Region. „Vor allem während der langen Polarnächte ist das Lodern der Fackeln weithin zu sehen“, sagt Kolja. „Es heißt, dass unser Territorium, wenn man nachts aus dem Himmel schaut, heller als alle anderen Gebiete der Erde leuchtet.“

Kolja – so sein russischer Name, sein chantischer sei zu kompliziert – gehört zum Volk der Chanten, der indigenen Bevölkerung Westsibiriens, zu den „kleinen Völkern des Nordens“, wie sie auf Russisch genannt werden. Viele der Chanten leben an den unzähligen Nebenarmen des Ob, der zu den größten Flüssen der Erde zählt und wie eine Ader das gesamte Territorium der westsibirischen Tiefebene durchzieht.

Kolja wohnt mit seiner Frau Anja und Tochter Nelja am Flüsschen Salma zweihundert Kilometer östlich von Surgut nahe Nishnesortymski, was sich als „Unterguterhecht“ übersetzen ließe. Sort bedeutet auf Chantisch Hecht, und ym heißt guter. Der 28-Jährige ist von kleinem Wuchs. Seine graugrünen schmalen Augen lächeln schelmisch. Er trägt ein verziertes Messer an seinem Gürtel, eine Patronentasche und ein einfaches Gewehr. „Hier kann man oft einem Bären begegnen“, hatte er mir in der Nacht erklärt.

Am nächsten Morgen führt mich Kolja zu der Stelle des Flusses, an der ihn vor zwei Wochen, als er seine Fischreuse befestigte, ein Bär überraschte. Einen Kilometer wate ich hinter ihm durch das Moor, unsicher jeden Schritt prüfend. Kolja kennt den Weg und die festeren Stellen. Ich komme kaum hinter ihm her, fühle mich orientierungslos. Ringsherum Moorlandschaft durchsetzt mit graugrünen Mooshügelchen und bewachsen mit krummbeinigen sibirischen Zedern und Kiefern. Kurz vor dem Fluss flüstert er, dass ich mich schnell ducken sollte. Seine flinken Augen haben etwas bemerkt. Ich sehe nichts. Kolja verschwindet, plötzlich ein Schuss. Er kommt zurück mit einer Ente.

Einen Bären hätte Kolja ohnehin nur in Notwehr geschossen. Der Bär wird bei den Chanten wie bei den meisten sibirischen Völkern aufgrund seiner Stärke, Größe und Cleverness verehrt und gefürchtet zugleich und gilt als heiliges Wesen. Man nennt ihn nicht beim Namen, sondern umschreibt ihn respektvoll als „Alter mit den Krallen“. Auch vermeidet man zu sagen, dass ein Bär erlegt wurde, es heißt: „Er kam zu Gast.“

Doch die natürliche Idylle des gegenseitigen Auskommens trügt: Taiga und Tundra sind getränkt von Erdöl. Über die Hälfte des Erdöls Russlands wird im autonomen Bezirk der Chanten und Mansen gefördert. Dieses Territorium ist mit 535.000 Quadratkilometer so groß wie Frankreich. Der Taigaboden, der lediglich im Sommer zwischen Mai und August auf mehrere Zentimeter auftaut, ist nur in wenigen Gebieten für landwirtschaftliche Zwecke geeignet.

Die Chanten ernähren sich von Fischen und Beeren und zusätzlich von der Jagd auf Kleintiere. Doch seit der geologische Vortrupp für die Erdölgesellschaft Surgutneftegas auf dem Land von Koljas Familie 1997 zum ersten Mal Versuchsbohrungen unternahm, hat ihre Ernährung einen Beigeschmack. „Viele von uns haben seitdem Magen- und Blasenschmerzen. Viele werden sehr krank. Doch die [Vertreter der Ölfirma, Anm. d. Autorin] behaupten, wir hätten das schon früher gehabt, weil wir rohen Fisch essen“, empört sich Anna Petrowna, die Mutter von Kolja. Roher Fisch gilt bei den Chanten wie bei den Japanern als Delikatesse und ist eine Tradition. Doch „durch die unterirdischen Explosionen und Bohrungen sind weniger Fische in unserem Fluss. Vorher gab es keine toten und verdorbenen Fische. Wenn der Schnee taut, sieht man die schwarze Ölschicht und das gelbliche Wasser besonders deutlich.“

Die Entdeckung von Erdöl und Erdgas geht auf Ende der Fünfzigerjahre zurück. Während der Breschnew-Ära setzte eine regelrechte Aufbaueuphorie in dieser Region ein, bei der hohe Fördermengen die Priorität hatten. Da die technischen Voraussetzungen oft dem harten Klima nicht entsprachen und eine Destruktion der Anlagen forcierten, kam es bereits zu Sowjetzeiten zu Öllecks. Aber weil es nur einen staatlichen Ölbetrieb gab, verlief die Förderung kontrollierter und nicht sehr extensiv.

Der Rückgang der Fördermenge ab 1988 fiel mit der Perestroika zusammen und hatte zur Folge, dass große Landflächen, einerseits der geschlossenen Kolchose und Sowchose, andererseits weiteres Wohn- und Weide- und Jagdland der Chanten für neue Ölförderungsanlagen „entfremdet“ wurden. Breite Zufahrtstraßen wurden durch die sibirischen Wälder, eine der größten „Lungen“ der Welt, geschlagen.

Im Zuge der Perestroika zerfiel die staatliche Ölgesellschaft in mehrere Privatunternehmen. Jede von ihnen stellt eine wichtige Wirtschaftsmacht dar und wegen ihrer hohen Einnahmen, ihrer wichtigen Funktion als Arbeitgeber für viele russische und zugezogene Fachkräfte und da sie die größten Steuerzahler in Westsibirien darstellen, üben sie heute einen bedeutenden politischen Einfluss aus. Ökologische Missstände, die besonders hart die indigene Bevölkerung trafen, wurden deshalb lange bagatellisiert und vertuscht.

Mitte der Neunziger rast Westsibirien mit über 3.100 registrierten Störfällen allein für 1995 einer Ökokatastrophe entgegen. Eine starke Protestbewegung unter der indigenen Bevölkerung schafft es, neue Rechte und Gesetze sowie eine Vertretung in der staatlichen Duma und der Duma des autonomen Bezirks durchzusetzen und damit die Tragödie abzuwenden. Leitfiguren dieser bis heute aktiven Bewegung sind die Schriftsteller Jeremei Aipin und Juri Wella, der eine Chante, der andere vom Nachbarvolk der Nenzen.

Auf Druck setzt allmählich ein Umdenkungsprozess in der Erdölindustrie und in der städtischen Administration ein. Die Regierung des autonomen Bezirks der Chanten und Mansen investiert seitdem zunehmend in Erforschung und Wahrung der Kultur der indigenen Bevölkerung. Es werden Kulturzentren und Museen eröffnet, Kulturfestivals und internationale Forschungsprojekte finanziert.

Doch beträchtliche Teile der veralteten Ölleitungen wurden noch immer nicht erneuert. Noch kommt es zu Lecks, noch gibt es viele Gebiete, die verseucht sind. Das russisch-sibirische Öl, das Deutschland einführt, stammt überwiegend aus Westsibirien. Die Zahlen sind in den letzten Jahren sogar gestiegen, ungeachtet der Verschmutzung und Konflikte, die dieses Öl begleiten.

Bei der städtischen Verwaltung von Nishnesortymski gibt es einen Verantwortlichen für die indigene Bevölkerung, jedoch nur in Renten-, Bildungs- und Wohnungsangelegenheiten. Bei der Erdölgesellschaft Surgutneftegas, erfahre ich, ist ein Mitarbeiter als „Ingenieur für die Belange der indigenen Bevölkerung“ zuständig, eine Stelle, die 1992 geschaffen wurde. „Heute kommen bei einer Havarie sogleich Spezialkräfte. Wir verfügen über modernste Technik“, versichert uns der Verantwortliche.

In der Nähe von Koljas Haus kam es vor einigen Jahren zu einem Störfall, bei dem Erdöl ausfloss. Die Ölleute seien erst sehr viel später auf die Anwohner zugekommen und eine Entschädigung erhielt die Familie nicht, erinnert sich Kolja. Ob es in den letzten Jahren besser geworden ist? „Es passiert vielleicht weniger, aber es ist schon so viel geschehen, so viele Flüsse sind verschmutzt.“ Sauberes Wasser, das man in der westsibirischen Tiefebene in Hülle und Fülle vermuten würde, wird durch die wachsende Industrie mehr und mehr zu einem raren Gut.

Das Öl und seine Begleiterscheinungen bringen herbe Verluste für die Kultur der Chanten. „Voriges Jahr ist unser letztes Rentier gestorben: am ‚Dreck‘ “, erklärt Anna Petrowna. Und das bedeutet nicht nur materiellen Schaden. Rentiere dienen den meisten Familien in Sibirien als Transporttiere, nur im Notfall und für Opferhandlungen werden sie geschlachtet. Ihr Fell ist bei den harschen klimatischen Bedingungen von minus 40 Grad unentbehrlich: aus Rentierfell werden Zelte, Winterbekleidung, Stiefel oder Decken gefertigt. Durch die Trassen und Ölbohrtürme sind innerhalb der letzten 20, 30 Jahre jahrtausendealte Migrationswege der Rene zerstört worden. Sie kommen um auf den Straßen oder werden von Wilderern abgeschossen. Im Jahre 1964 wurden noch 70.800 Rentiere, 1998 nur noch 32.300 Rentiere gezählt.

Kolja zeigt uns die Dachkonstruktion auf Pfeilern, unter der früher die Rentiere im Sommer zusammenkamen. Hier wurde in der Mitte für die Rene ein Feuer gemacht – denn Rauch ist das sicherste Mittel vor den sibirischen Moskitos. Heute liegen hier Einbaumboote und andere Gerätschaften. „Es ist einsam geworden ohne die Rentiere“, sagt Kolja und wendet seine Blick rasch ab. Ein weiterer Abend ist vorbei. Bald wird die leuchtend gelbe Mitternachtssonne hinter dem märchenhaft schwarzblauen „Hochzeitsee“ versinken. Ich stelle mir die Rentiere vor, der Schatten ihrer grazilen Geweihe wie Schriftzeichen einer vergangenen Kultur.

Mit dem Sterben der Tiere verschwindet aber nicht nur ein Teil der Tradition der Chanten, sondern auch ein Symbol einer jahrtausendealten Kultur, die auf dem Respekt und der Wahrung des ökologischen Gleichgewichts eines sehr zerbrechlichen Ökosystems basiert. Die dünne fruchtbare Decke der Taiga mit ihren Früchten, Pilzen, Heilpflanzen und dem hellgrünen Rentiermoos – dem Hauptnahrungsmittel der Rene – wird von den Traktoren und Fahrzeugen der Erdölarbeiter zerfurcht, zermalmt und zerstört.

Anna Petrowna ist mit ihren über sechzig Jahren eine kluge, rüstige Frau, die als Familienvorstand alle Gespräche mit der Erdölfirma führt und kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie trägt ein buntes Kopftuch und ein mit winzig kleinen Perlen besticktes Kleid. Ihr gehört das Stoibiche, der traditionelle Familienhof, und das Land, das sie von Ihren Vorfahren geerbt hat. Ihr Besitz ist nicht durch Zäune von den Nachbarn abgegrenzt, es gibt auch keine genauen Karten. Aber jeder Chante weiß, an welchem Baum oder Fluss das Land des Nachbarn beginnt, und deren Besitz ist für alle anderen tabu.

Mit der Ausbreitung und rasanten Intensivierung der Ölförderung in den Achtzigerjahren sind den Chanten und den anderen indigenen Völkern große Landflächen genommen worden. Laut Verfassung hat die Urbevölkerung das Recht auf Nutzung der Taiga und Tundra für die Sicherung ihres Lebensunterhalts, zu dem das Weiden ihrer Rentierherden seit Jahrtausenden gehörte. Aber bis heute existiert kein Gesetz, das das Eigentum an Grund und Boden der indigenen Bevölkerung schwarz auf weiß fixiert. Die Erdölgesellschaften besitzen Lizenzen und somit das Recht auf Ölförderung.

„Seit Mitte der Neunzigerjahre“, erzählt uns der Verantwortliche bei Surgutneftegas, „erhalten die Familien der Höfe, auf denen Erdöl gefördert wird, regelmäßig Zahlungen für die Nutzung ihres Bodens sowie Burane (Schneemobile), Motorsägen, Boote und Benzin“. Es sind 2.150 Rubel (65–70 Euro) pro Quartal pro Erwachsenem – ein Hohn, verglichen mit den Milliarden an Ölprofit von Surgutneftegas, der sich heute als zweitgrößter Erdölmagnat Westsibiriens noch vor Yukos präsentiert.

Viel ist das nicht. „Einmal auf den Markt gehen und die Hälfte des Geldes ist weg“, sagt Kolja. Auf dem Markt kauft die Familie ohnehin nur das Allernötigste: Kartoffeln, Zwiebeln, Zucker, Salz, manchmal Karotten. Warum sie den Vertrag dennoch unterschriebenen haben, der es der Erdölfirma gestattet, auf ihrem Land nach Öl zu bohren? Sie haben lange Zeit nicht unterzeichnen wollen, antwortet Anna Petrowna, doch die Firma kam immer wieder und der für sie Zuständige bei Surgutneftegas hat sie bei den Verhandlungen nicht wie erwartet unterstützt.

„Wenigstens bekommen wir etwas Geld. Seit der Perestroika ist doch alles sehr teuer geworden. Ein Schneemobil kostet 70.000 Rubel, Benzin wird ständig teurer.“ Einige Russen, die heute die Mehrheit zusammen mit Angehörigen anderer zugereister Nationalitäten im autonomen Bezirk der Chanten und Mansen bilden, neiden den Chanten selbst die eher symbolische Entschädigung und werfen ihnen vor, dass sie nicht arbeiten und sich nicht der neuen Zeit anpassen wollen.

Arbeitsmöglichkeiten gibt es in der Region wenige. Das hiesige Fischkombinat ist wie die meisten der Betriebe bankrott gegangen. Früher garantierte es ihnen ein bescheidenes Einkommen und einen gesicherten Fischabsatz, Heute müssen die Fischer lange Transportwege in Kauf nehmen und die Unsicherheit, ihren Fisch auf dem Markt nicht loszuwerden. „Kauft nicht bei den Chanten, ihre Fische haben Würmer“, raunen mir russische Verkäufer auf dem Markt in Nishnesortymski zu.

„Wir müssen endlich das Recht auf Selbstbestimmung und Beteiligung an den Einkünften der Erdölgesellschaften erhalten“, erklärt Artjom, Koljas Bruder. Ruhig, ohne Wut und Verbitterung sagt er diesen Satz. Er wollte Jura studieren, um die Rechte seines Volks zu vertreten. Doch dann brauchte die Mutter Unterstützung und er brach die Schule ab, um der Mutter auf dem Stoibiche auszuhelfen. Artjom arbeitet heute als Wächter bei den Förderanlagen. In diesem Job arbeiten nur Chanten, während unter dem Fachpersonal und in der leitenden Ebene fast ausschließlich Russen anzutreffen sind. Das wird mir auch vom Vertreter von Surgutneftegas bestätigt mit der Begründung, bei den Chanten fehle die Ausbildung.

Der Anteil der indigenen Bevölkerung in vielen wichtigen Gebieten wie dem öffentlichen Dienst, der Wirtschaft, in der Forschung und in höheren Bildungseinrichtungen ist sehr niedrig. Aber ohne kompetente Vertreter aus den eigenen Kreisen und ohne finanzielle Förderung durch den Staat, der diese in den letzten Jahren auf den autonomen Bezirk abgewälzt hat, wird das Überleben und die Entwicklung dieser „kleinen Völker Sibiriens“ kaum eine Zukunft haben.

Nelja, die Tochter von Kolja und Anja, wird bald in die Internatsschule nach Nishnesortymski gehen. Das Internat existiert noch nicht lange. Nishnesortymski ist eine typische Ölarbeitersiedlung, bestehend aus barackenartigen Häusern und Kantinen. In diesem Jahr wird zum ersten Mal eine chantische Schülerin die Schule nach der neunten Klasse fortsetzen. Danach möchte sie studieren.

Vielleicht wird auch Nelja einmal studieren, um das Land der Chanten bekannt zu machen. Vielleicht kehrt sie aber auch in ihre Heimat der kleinwüchsigen Zirbelkiefern und Tannen, der Preisel- und Moosbeeren zurück, wo jeder Schritt im Sommer gluckst und es viele heilige Stätten tief in den Wäldern gibt, in denen die Geister ihrer Ahnen leben.

VERA THÜMMEL, Jahrgang 1967, ist Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin und lebt in Frankfurt am Main. Der Text entstand im Rahmen einer Forschungsreise nach Westsibirien – mit Vertretern des Museums für Mensch und Natur von Chanty-Mansijsk (Westsibirien) und des Museums der Weltkulturen Frankfurt. In Frankfurt kuratierte sie mit westsibirischen Museen die Ausstellung „Aus mythischen Zeiten. 300 Jahre Schamanismus“