: Es raunt, es tönt
Warum leidet diese Jugend bloß so viehisch? Zu seinem 100. Geburtstag taucht das Dortmunder Theater in die Tiefen des 20. Jahrhunderts und zeigt „Sternstunden des Expressionismus“
VON MORTEN KANSTEINER
Sie haben die Arme eng am Körper verschränkt, ein wenig als frören sie. Aber ihnen ist nicht wirklich kalt; nicht der Herbst ist schuld, sondern der Mitmensch. Der will die Jugend nämlich nicht verstehen. Und so stehen sie trotzig da, die Arme angelegt, und schauen starr nach vorn: das Fräulein Isenbarn aus Ernst Barlachs „Armem Vetter“, der junge Herr Iver – demselben Stück und Geist entsprungen – oder auch Grete, die Schwester von Georg aus einem Trakl-Arrangement von Andreas Wrosch. Das 20. Jahrhundert ist noch jung, und während der deutsche Bürger Werte sowie Wissen schafft und ein bisschen Welt erobert, haben seine Kinder von alledem genug. „Ich lege auf die ganze Entwicklungsgeschichte keinen Wert“, bekennt der Nachwuchsmediziner Dr. Rönne. Allerdings fallen diese deutlichen Worte erst spät in der Nacht, wenn das Expressionismus-Panorama des Theaters Dortmund mit Gottfried Benns „Ithaka“ zu Ende geht.
Zuvor haben die Dortmunder sie alle schon versammelt: neun „Sternstunden des Expressionismus“. Nach dem „Armen Vetter“ zu Beginn des Abends ist das Publikum auseinander gegangen, um in verschiedenen Winkeln des Schauspielhauses auf Texte von Georg Kaiser, Lasker-Schüler, Sternheim oder Trakl zu treffen. In der dritten Runde, vor dem Benn-Finale: August Stramm, Horvath, Toller, Brecht. Das Dortmunder Theater hat Erfahrung mit gezielter Überforderung – vor zwei Jahren gab es ein „Fest der Romantik“ – und zudem einen besonderen Anlass: Es feiert seinen 100. Geburtstag.
Insgesamt kann der Theaterbesucher rund sieben Stunden in expressionistischer Gesellschaft verbringen. Genug Zeit, sich ein wenig kennen zu lernen. Trotzdem rätselt man mitunter: Warum leidet diese Jugend denn so viehisch? Barlachs Iver schießt sich in die Brust, überlebt, reißt sich später die Verbände vom Leib und verblutet. Zuvor raunt er von einem Mord, von der Last auf seinem Gewissen. Doch so richtig umgebracht hat er niemanden. Nein, sein Schmerz wurzelt offenbar in der Unmöglichkeit, einem anderen wirklich zu begegnen. Misst man einen Fremden nicht immer am eigenen Menschenbild? Verwandelt man ihn nicht immer in einen Spiegel? Na bitte, will Barlach uns bedeuten: So beraubt man selbst einen geliebten Menschen seiner Individualität. Dergestalt ist unser aller Mord.
Das ist scharfsinnig. Aber muss unser Held deshalb unbedingt sterben? Muss die Isenbarn ihr ganzes Leben dem Verstorbenen widmen, nur weil ihr eigentlicher Verlobter auf die Uhr schaut, während ihr Blick sich ekstatisch in den Wolken verliert? Gewiss: Uwe Hergenröder hat versucht, uns die Helden mit seiner Inszenierung nahe zu bringen. Mit ihren sandfarbenen Jacken und hohen Wangenknochen verströmen Philipp Engelhardt und Silvia Fink den Charme italienischen Modedesigns. Doch der Einblick in die Notwendigkeiten der Charaktere bleibt irgendwie aus.
Leichter fällt die Einfühlung, wenn der Erste Weltkrieg am Horizont heraufzieht. Der Verzweiflung des Sanitätsleutnants Trakl kann man sich schwer entziehen. In einer Szene führt Andreas Wrosch den Dichter am Rande eines Schlachtfelds mit einem Kameraden zusammen. Erst redet nur dieser, dann trägt jener vor: „Doch stille sammelt im Weidengrund / Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt, / Das vergossene Blut sich, mondene Kühle“. Hier stellt sich auch der expressionistische Rausch ein. Geradezu behutsam füllt Jakob Schneider – unter Wroschs Regie – eine bunkerartige Probebühne mit den Versen. Seine Stimme klingt hoch im Vergleich zu seinen kräftigen Kiefern, aber sie reibt ein wenig, sie drängt, ohne die Gewalt der Sprache bloß zu verdoppeln. Und so wirkt die Emphase, die auch hier für Distanz sorgen könnte, wie selbstverständlich.
Noch ein weiteres Mal herrscht an diesem Abend im Hintergrund der Szene Krieg. Doch sein Widerschein ist dabei vielfach gebrochen: Zwar lässt Else Lasker-Schüler in ihrem Schauspiel „IchundIch“ die erste Riege des NS-Regimes auf die Bühne treten, aber sie stellt ihnen Figuren aus dem „Faust“ an die Seite. Sie umzäunt das Ganze mit einer Rahmenhandlung. Und Manuel Harder hat den wilden Text gebändigt: Die Nazihorden, die Lasker-Schüler in der Hölle hausen und in einem Lavastrom versinken lässt, verdichtet seine Inszenierung auf das Format einer Studiobühne. Neben kurzen Ausbrüchen von Barbarei bleibt Raum für zwei verschiedene Arten, im Angesicht der Katastrophe zu scheitern. Da ist Faust, gespielt von Jürgen Uter: Er trägt seine Verblüffung über das Böse offen im Gesicht, darüber bieder einen Hut, und so sucht er Zuflucht bei seinem Freund Mephisto. Den zeigt Manuel Harder selbst als resignierten Verführer.
Mal schmiegt er sich an Faustens Brust, mal komprimiert er seine Stimme zur Klinge. Bei beiden herrscht Hilflosigkeit, aber sie geben ihr eine Form, die Halt verleiht in unhaltbarer Lage. Wohl deshalb ragen diese Figuren über die aufgewühlte Jugend, die sich an diesem Abend auf den Dortmunder Bühnen versammelt hat, einen guten Kopf hinaus. In einem Stück, das einige Jahrzehnte von der großen Zeit des Expressionismus trennen.