: Dürre und Kapitalismus
Der Stadtsoziologe Mike Davis untersucht den historischen Zusammenhang zwischen Wetter, Hunger und Imperialismus
VON MARK TERKESSIDIS
Das Wetter bietet in den letzten Jahren einen ständigen Anlass für argwöhnische Betrachtungen, denn immer ist irgendwas nicht in Ordnung. Im Sommer 2003 war es zu heiß. Da blickten viele skeptisch in den lupenreinen blauen Himmel und vermuteten einen Effekt der globalen Erwärmung. Der aktuelle Sommer war nun komplett verregnet. Ebenfalls ein klares Zeichen, meinten andere, für eine bevorstehende Klimakatastrophe. Die Fernsehnachrichten orchestrieren solche Eindrücke mit seriellen Bildern von extremen Trockenheiten, Überschwemmungen, Heuschreckenplagen oder Stürmen.
Ein allgemeines Unbehagen hat sich breit gemacht – ein Unbehagen, bei dem es letztlich nicht nur ums Wetter geht, sondern auch um die Effekte der Globalisierung. Denn das unberechenbare Wetter symbolisiert einen Verlust an Kontrolle. Man kommt sich plötzlich so klein vor und ohnmächtig. Und gleichzeitig hat man das Gefühl, dass niemand etwas gegen die schwer begreifliche Unordnung unternimmt, denn der „Raubtierkapitalismus“, der die Planung hasst und den Markt vergöttert, scheint nun genau das falsche Mittel zu sein, um diesem Kontrollverlust zu begegnen.
Alle sprechen also vom Wetter und meinen auch die Globalisierung. Und nun kommt der US-amerikanische Stadtsoziologe Mike Davis und gibt dem diffus geahnten Zusammenhang tatsächlich ein Fundament. In seinem neuen Buch mit dem Titel „Die Geburt der Dritten Welt“ kann Davis überzeugend nachweisen, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert einen katastrophischen Synergieeffekt gab – zwischen einer extremen weltweiten Veränderung des Klimas, einer zunehmend integrierten Weltökonomie, der zugehörigen spätviktorianischen Freihandelsideologie und dem Imperialismus. Dieser perverse Zusammenhang forderte etwa 30 Millionen Opfer und stürzte bestimmte Weltregionen nachhaltig in Armut und Abhängigkeit.
Das Klimaphänomen im Zentrum des Buches ist aus den letzten Jahren wohl bekannt: Es geht um „El Niño“ – eine wiederkehrende rasche Erwärmung des östlichen tropischen Pazifiks, die zu schwachen Monsunniederschlägen in Teilen Asiens, Afrikas und im nordöstlichen Südamerika führt. So entstehen Dürren. Von dem planetarischen Ausmaß der Klimaverschiebungen wusste man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch wenig. Allerdings waren den Betroffenen in den Regionen die wiederkehrenden Dürreperioden bekannt – und die Menschen hatten stets Vorsorge getroffen. In China etwa gab es ein System von Kornspeichern, das unter normalen Bedingungen verhinderte, dass die Trockenheit zu Hunger führte. Doch die zunehmende wirtschaftliche Verquickung des Weltsystems im Rahmen des Kolonialismus setzte die traditionellen Formen der Absicherung außer Kraft. Es entstand ein Effekt, den Mike Davis „politische Ökologie des Hungers“ nennt.
Die Beispiele, die er auf den fast 500 Seiten der „Geburt der Dritten Welt“ liefert, sind mannigfaltig – die Reise geht von Äthiopien in den Sudan, von Marokko zu den Philippinen, von China nach Brasilien. Ein anschauliches Exempel ist zweifellos Indien. Am Anfang stand hier die Auflösung der traditionellen Getreideproduktion – eine Folge der Bekämpfung des Aufstandes von 1857/58. Während das Getreide zuvor auf komplizierte Weise getauscht wurde, übergaben die Briten das Geschäft nun an Händler, die das Getreide in zentralen Depots horteten und Barzahlung verlangten. Über diese Händler lief auch ein schwunghafter Export von indischen Agrarprodukten. Als 1876 nun die Dürre ausbrach, konnten die mittlerweile oft arbeitslosen Exbauern die stark gestiegenen Preise nicht mehr bezahlen – und mussten hungern. Eine vernünftige Regierung hätte nun die Teuerung bekämpft und Nahrungsmittel verteilt. Doch das Gegenteil geschah: Lord Lytton, Vizekönig von Indien, war ein strikter Verfechter der Laissez-faire-Politik à la Adam Smith und verbot jegliche Intervention. So wurde der Hunger schlimmer und erstreckte sich bald auch auf Landstriche, in denen es genug geregnet hatte.
Aber auch das führte nicht zum Umdenken. Sir Richard Temple, der stellvertretende Gouverneur von Bengalen, reiste als Hungerbeauftragter in die betroffenen Gegenden und strich dort alle staatlich subventionierten Arbeitsmaßnahmen. So wollte er die Menschen zwingen, Kulitätigkeiten zu übernehmen – etwa beim Eisenbahnbau. Dort aber wurden – als „Experiment“ – die Reisrationen gekürzt, was die Arbeitslager in Todesmaschinen verwandelte. Absurderweise gehörten die Gefängnisse nicht zu dieser „industrialisierten Todesbürokratie“. Daher flohen die Menschen in die Kriminalität: In den überfüllten Knästen gab es immerhin genug zu essen.
Mike Davis’ Buch ist voll gestopft mit Fakten, die letztlich nur Fachwissenschaftler im Einzelnen überprüfen könnten. Doch bislang hielten seine Analysen der Kritik stand, die ihm vorwarf, er würde die Tatsachen verfälschen, um sie in sein marxistisch inspiriertes Apokalypseschema einzupassen. Besonders heftig waren solche Angriffe, als 1998 sein Buch „Ökologie der Angst“ erschien, in dem es ebenfalls ums Klima geht, und zwar um das in Los Angeles. Die konservative Presse berief sich dabei auf die 23-seitige E-Mail eines gewissen Brady Westwater, in der Davis gravierende Fehler nachgewiesen worden seien. Doch die angeblichen Manipulationen, die Westwater aufdeckte, schienen nachgerade lächerlich. So warf er Davis „Betrug“ vor, weil es im Klappentext des Buches hieß, er sei in Los Angeles geboren. Sein wirklicher Geburtsort sei nämlich Fontana. Freilich liegt der Ort ganze zwölf Meilen außerhalb der County-Grenze von L. A. Später sprangen allerdings namhafte Klimawissenschaftler und Geografen für Mike Davis in die Bresche. Derweil gilt er definitiv als vertrauenswürdig.
Vergleiche zu heute zieht Mike Davis nicht, obwohl sie sich geradezu penetrant anbieten – das wäre ihm vermutlich zu unseriös. Allerdings kann er mit seinem äußerst erhellenden Buch klar belegen: Das aktuelle Unbehagen am Wetter dürfte mit Blick auf die Geschichte seine Berechtigung haben.
Mike Davis: „Die Geburt der Dritten Welt“. Aus dem Amerikanischen von Ingrid Scherf, Britta Grell und Jürgen Pelzer. Assoziation A, Berlin 2004, 464 Seiten, 29,50 Euro