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Archiv-Artikel

Das Leben ist keine Talkshow

So klar wie das Licht der französischen Mittelmeerküste im Februar: In ihrem neuen Film „Marseille“ spielt Angela Schanelec die künstlichen Situationen des Kinos so gegen die Zufälle der Wirklichkeit aus, dass die gespielte Wirklichkeit gewinnt

VON HARALD FRICKE

Die Filme von Angela Schanelec folgen nur den Regeln, die von der Realität vorgegeben werden. Deshalb sind sie so genau durchgearbeitet, und das gilt auch für die Produktion – warum sonst hätte „Marseille“ ausgerechnet im Februar gedreht werden sollen? Der Himmel über der südfranzösischen Stadt ist zu dieser Zeit zwar unentwegt bewölkt, das Licht aber trotzdem hell und klar. Das sind wiederum die idealen Voraussetzungen für Sophie (Maren Eggert), die nach Marseille gekommen ist, um Fotos zu machen. Denn im Sommer ist das Licht im Süden entweder so grell, dass die Gegenstände schnell überbelichtet wirken; oder aber die Sonne dringt gelb bis in jeden Winkel vor, sodass auf den Fotos ein kitschiger Schleier liegt. Keine Frage, wer Marseille nicht bloß als Urlaubsfoto wahrnehmen will, sondern nach adäquaten Bildern vom Stadtleben sucht, ist dort im Spätwinter sicher am besten aufgehoben.

Solche Vorüberlegungen sind bei Schanelec wichtig. Sie achtet auf lokale und atmosphärische Details, die bei anderen Produktionen vermutlich als zweitrangig verbucht werden. Entsprechend ist Marseille bei ihr keine Postkartenmetropole, sondern ein Agglomerat aus Hochhäusern, die sich über ein paar Hügelausläufer der Provence erstrecken. Keine Strandpromenade, keine Sightseeing-Plätze, kein Ferien-Flair, nirgends. Deshalb glaubt man Sophie sofort, dass sie mit einer Französin die Wohnung getauscht hat, um tatsächlich vor Ort zu arbeiten. Unentwegt sieht man sie mit der Kamera an engen Straßenkreuzungen oder auf einer Avenue den heranfahrenden Berufsverkehr fotografieren. Doch die Bilder, die dabei entstehen, zeigt Schanelec nicht. Auch diese Enttäuschung des Betrachters dient der Aufmerksamkeit: Der fotografische Akt wird zum Bild für ihre Suche nach Identität. Sie tastet sich auf fremdem Terrain voran.

Im Grunde kann man den ganzen Film mit solchen Nebensächlichkeiten nacherzählen. Denn an so genannten großen Handlungen ist „Marseille“ enorm arm. Sophie fährt nach Marseille, Sophie kehrt zurück nach Berlin, Sophie fährt ein zweites Mal nach Marseille. Hier nun wird sie in ein Verbrechen verwickelt, das sich am Ende aber nicht weiter aufklärt. Ohne Gepäck und Papiere bleibt sie am Strand zurück. Für dieses letzte Bild darf sogar einmal die Sonne sanft über dem Mittelmeer untergehen, „bevor das Licht verschwindet“, wie Schanelec im Interview mit der ihr eigenen spröden Ironie angemerkt hat.

Dabei verzichtet die Berliner Filmemacherin nicht einmal absichtlich auf narrative Spannungsbögen. Zwar könnte sich in „Marseille“ für Sophie gleich zu Beginn eine Liebesgeschichte mit Pierre (Alexis Loret) anbahnen, der in einer Autowerkstatt Gebrauchtwagen lackiert. Aber später werden die beiden nur einmal zusammen einen Whiskey trinken und mit Freunden von Pierre zum Tanzen gehen, mehr passiert nicht zwischen ihnen. Gerade weil man jedoch erwartet, dass sich aus ihrer flüchtigen Begegnung eine Beziehung entwickelt, hört man genau zu, wenn sie sich kurz in der Kneipe unterhalten. Und dabei erfährt man tatsächlich, was Sophies Wesen im Kern ausmacht: „Ich finde nie eine Ende“, sagt sie zu ihrem Begleiter nach wenigen Minuten. Mehr braucht man nicht über ihren Charakter zu wissen, denn dann fällt ihr auch schon ein Freund von Pierre ins Wort, der die Fremde misstrauisch fragt, was sie überhaupt in Marseille verloren hat. Eine Antwort erhält er nicht, da gerät die Kommunikation schnell an eine Grenze – auch wegen Sophies Sensibilität im Umgang mit persönlichen Dingen. Das Leben ist eben keine Talkshow.

Es gehört zu den großen Qualitäten von „Marseille“, dass Schanelec alles Zwischenmenschliche in der Schwebe belässt. Wie schon in ihren früheren Filmen „Plätze in Städten“ oder „Mein langsames Leben“ gibt es wenig zu entdecken, was nicht auch in den Bildern gesagt wird. Intimität und Bekenntnis gehören nicht in Schanelecs Kino, eher schon sind sie durch Gesten und Andeutungen indirekt vermittelt wie bei Eric Rohmer oder Robert Bresson. Nie werden die Gefühle der Protagonisten ausgesprochen, beklagt oder diskutiert. Immer aber spürt man im Film die Anwesenheit solcher prägenden Erfahrungen – sei es in der Erinnerung oder als Verletzung. Zurück in Berlin sieht man Sophie in einer Dreierkonstellation, aus der sich ihre Reise nach Marseille erklärt. Die Verhältnisse daheim sind furchtbar kompliziert, die beste Freundin Hanna (Marie-Lou Sellem) lebt mit dem Fotografen Ivan (Devid Striesow) zusammen, für den auch Sophie einige Zuneigung empfindet. Als Hanna auf den Konflikt zu sprechen kommt, weicht Sophie aus. Ohnehin scheint sie sich gegenüber ihrer Umwelt gepanzert zu haben. Wenn sie anfangs im schweren Mantel durch Marseille wandert, sieht sie wie eine Partisanin aus, die nur nicht weiß, gegen wen es zu kämpfen gilt.

Diese Diszipliniertheit merkt man allen Figuren an. Nie ist klar, ob sie sich mit ihren sozialen Rollen als bürgerliche Thirtysomethings abgefunden haben oder ob Schanelec ihnen dieses Korsett angelegt hat, damit ihr emotionales Eingesperrtsein beim Betrachter den Wunsch nach Emanzipation aus diesen engen Verhältnissen freisetzt. Denn in ihrem Elend geht es allen ja noch sehr gut: Ivan ist ein erfolgreicher Fotograf, Hanna arbeitet am Theater. Dort ist es ausgerechnet eine Probe zu einem Tschechow-Stück, in der die Schauspieler offen legen, wie viel Übung zur Beherrschung von Gefühlen gehört. Auch da weiß Schanelec genau, wovon sie spricht, schließlich hat sie selbst sieben Jahre am Theater gearbeitet. Ihre Kunst besteht darin, die künstlichen Situationen des Kinos so gegen die Zufälle der Wirklichkeit auszuspielen, dass die gespielte Wirklichkeit am Ende gewinnt. So viel Sinn für die Abgründe der Realität hat im deutschen Kino sonst niemand.