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Archiv-Artikel

„Putin ist schlimm – aber was nach ihm käme, wäre schlimmer“, sagt Lilia Schewtsowa

Russland ist heute instabiler als noch vor fünf Jahren. Schuld ist Wladimir Putins autokratische Herrschaft

taz: Nach Beslan sind Zar und Hofstab ratlos. Offenbar hofft Putin, das Volk möge ihn retten und nicht im Stich zu lassen. Stimmt dieser Eindruck?

Lilia Schewtsowa: Ja. Der Kreml ruft die Gesellschaft auf, ihm Kraft und Stärke verleihen. Putin verwendet ein sowjetisches Wort: Mobilisierung. Der Kreml hat die Dramatik des Augenblicks erkannt und begriffen, wie verwundbar er ist. Er hat Angst vor einem Erdrutsch, der alles unter sich begräbt.

Ist er deshalb so unfähig, etwas Vernünftiges zu tun? Putin entdeckt die Schuldigen im Ausland, seine unfähigen Generäle wollen weltweit Terroristen bombardieren. Ist das nicht infantil?

Durchaus. Putin will übrigens nicht zurück zur UdSSR. Aber die Erinnerung an die Sowjetunion in der Rede an die Nation sollte den Geist des Zweiten Weltkrieges wachrufen, Widersprüche übertünchen und das Volk hinter dem Kreml einen.

Also Sowjethabitus, um Schwäche zu überspielen ?

Putin sucht verzweifelt nach einer Selbstrechtfertigung. Deshalb hat er gesagt, es gäbe Kräfte innen, vor allem aber außen, die die territoriale Integrität Russlands bedrohen. Er glaubt das wirklich, das ist nichts Künstliches. Putin fürchtet den Zerfall Russlands – und er fürchtet eines Tages zu enden wie Gorbatschow. Damit rechtfertigt er auch seine verfahrene Innenpolitik. Seine Schlussfolgerungen sind nicht nur widersprüchlich, sie sind geradezu grotesk. Einerseits hält er eine Eloge auf George Bush. Im Nachsatz unterstellt er den USA, Terroristen zu unterstützen.

So will er sich reinwaschen?

Ja. Sich zur Verantwortung zu bekennen, ist nicht einfach. Putin sucht einen Weg zurück in die Rolle des Stabilisierers, die er aber nicht ausfüllt. Die Sicherheitslage und die gesellschaftliche Verfasstheit sind schlechter als 1999. Hier zu leben, ist gefährlicher geworden. Der Kremlchef hat Angst vor dem Volk.

Begreift Putin denn, dass seine Politik dahin geführt hat ?

Er versteht eine Menge, aber er kann sich von seiner Rolle nicht freimachen. Welcher Politiker hätte den Mut, sich vor das Volk zu stellen und zu beichten: Meine Politik hat ins Fiasko geführt. Selbst wenn er es täte – ich weiß nicht, was dann in Russland passieren würde.

Also – sollen die Hintergründe der Tragödie von Beslan besser nicht aufgedeckt werden?

Doch. Die Wahrheit muss ans Licht, auch wenn dies gefährlich wird, weil die Gesellschaft noch nicht imstande ist, die ganze Wahrheit zu ertragen. Und doch ist dies die Voraussetzung, um die Gesellschaft zu konsolidieren. Putin kann ungeschoren entkommen, wenn sich herausstellt, dass er keinen Befehl zum Sturm gegeben hat.

Putin will den Tschetschienkonflikt als innertschetschenisches Problem darstellen …

Ja, weil er erkannt hat, dass der militärische Weg nichts bringt. Inzwischen entstehen auch Unruheherde in Inguschetien und Dagestan. Putin merkt, dass er nicht mehr Herr der Lage ist. Hebt er einmal den Deckel, geht der Topf nicht mehr zu.

Kann der Westen die Kaukasuspolitik des Kreml ändern?

Marginal. Im Kreml regiert eine „innere Verschwörung“, Rat von außen bewirkt wenig. Trotzdem sollten westliche Politiker sich Putin zur Brust nehmen und sagen: „Hör zu, Wladimir, dein Märchen vom internationalen Terrorismus glauben wir nicht. Da mögen ein, zwei, drei Araber bei dir rumlaufen, aber die sind nicht der Grund des Terrors.“ Konkrete Hilfe könnte der Westen bei der Verbesserung der Lage im Kaukasus leisten. 90 Prozent der Jugendlichen sind dort arbeitslos. Hilfsgelder gelangen nicht an die Adressaten. Daher sollte der Westen die Förderprogramme kontrollieren.

Darauf reagiert Moskau meist sehr empfindlich.

Es gibt keinen anderen Ausweg.

Steht Russland wieder mal vor der Entscheidung – entweder Westkurs oder zurück in die autoritäre Geschichte ?

Das sagen viele, aber mir ist dies zu primitiv. Dagegen spricht: Russland wird sich kaum vom Westen distanzieren. Die Familien der gesamten politischen Elite wohnen im Westen. Und 68 Prozent der Russen haben ein positives Verhältnis zum Westen. Es gibt kein Entweder-oder. Putin ist kein Diktator, auch sich wenn das totalitäre Syndrom gelegentlich zurückmeldet. Und Russland ist kein Land mehr, das alles mit sich machen lässt.

Wie wird es weitergehen?

Der Kreml ist zu konstruktiver Politik nicht fähig. Die Macht ist aber zu korrupt, um eine echte Diktatur zu errichten. Die Bedrohung besteht in langsamer innerer Zersetzung und zunehmendem Terror. AKWs können das nächste Ziel sein.

Klingt beunruhigend. Und dennoch gibt es keine Alternative zu Putin?

Man muss den Kreml scharf kritisieren. Aber Putins Rücktritt wäre eine Gefahr. Radikale Nationalisten sitzen schon in den Startlöchern. Putins Dilemma ist, dass er sich nur auf wenige, korrumpierte Kräfte stützen kann. Alle anderen hat er aus dem Weg geschafft – Medien, Opposition, Kommunisten, Zivilgesellschaft. Eigentlich gibt es nur ihn.

Aber das kann sich derzeit doch schnell ändern.

Russland durchlebt in zwei Jahren ein ganzes Jahrzehnt. Stagnation und Sumpf bestimmen zwar die Oberfläche. Trotzdem verändert sich die Gesellschaft, schneller etwa als in China. Nicht ausgeschlossen ist, dass linke und rechte Jugendbewegungen bald auf die Straße drängen. Noch ist die Masse der Gesellschaft aber passiv. Noch gibt es keine Radikalisierung an den politischen Rändern. Zum Glück.

INTERVIEW: KLAUS-HELGE DONATH