: Im Land des roten Staubs
AUS GOA RALF LEONHARD
Pissurlem sieht aus, wie viele andere indische Dörfer auch: Links und rechts der ungepflasterten Straßen stehen Hütten aus Betonziegeln. In den kleinen Gärten wächst mehr Gestrüpp als Gemüse. Für eine historisch gewachsene Ansiedlung ist alles zu regelmäßig. Das ursprüngliche Dorf lag denn auch etwa zwei Kilometer weiter östlich, jenseits einer Kokosnussplantage. Vor 20 oder 25 Jahren fielen dort Ziegel von den Dächern und die Hauswände bekamen große Sprünge: In der nahe gelegenen Eisenmine hatte man zu sprengen begonnen. Um die Kinder zu schützen, zogen die Leute nach und nach aus. Das ganze Dorf wurde verlegt.
Aber niemand beklagte sich. Schließlich verdankten einige Dorfbewohner dem Bergwerk einen Job. Und alle erwarteten, dass der Bergbau ihnen eines Tages Wohlstand bringen würde. Das hatte man ihnen versprochen, erinnert sich Barekalo Vishnu Parwar, der noch ein junger Mann war, als der Bergbau in Pissurlem, im kleinen indischen Bundesstaat Goa an der Westküste des Subkontinents, begann. Seine hagere, von der Tuberkulose gezeichnete Gestalt, nur mit einem weißen Lendenschurz bekleidet und der kahle Schädel mit der altmodischen Brille erwecken den Eindruck, als wären sie nach dem leibhaftigen Mahatma Gandhi modelliert. Vor 50 Jahren seien die Leute vom Bergwerk gekommen und hätten Arbeit und Geld versprochen: „Das machte uns froh. Aber jetzt wird unsere Lage immer schlimmer. Wir sehen, dass der Bergbau unsere Umwelt ruiniert. Am Anfang haben sie die Spitze des Berges abgetragen, und es waren nur wenige Männer dort beschäftigt. Jetzt gibt es Maschinen, und das Wasser wird immer knapper.“
Mit seinen 76 Jahren kann sich Barekalo Vishnu Parwar noch lange nicht zur Ruhe setzen. Er flicht Matten und Körbe aus Bambusfasern. Der Acker gibt schon seit Jahren nichts mehr her. Auf der Veranda seines rosa, türkis und weiß gestrichenen Ziegelhauses sitzt eine schwangere Enkeltochter unter einer billigen Plastikuhr, die längst zu ticken aufgehört hat, als wäre auch die Zeit stehen geblieben. Doch die gute alte Zeit, als die Quellen noch den See speisten, wo reichlich Fische zu holen waren, als die Reisfelder in sattem Grün standen, die ist vorbei. „Die Landwirtschaft ernährte uns“, erzählt der alte Mann, „jetzt haben wir nichts mehr zu essen. Seit vier Jahren wächst nichts mehr.“ Seit der Berg abgetragen ist, gebe es kein Wasser mehr.
Goa war fast 400 Jahre eine portugiesische Kolonie. Jahrhundertelang wurden von hier Gewürze und andere exotische Produkte nach Europa verschifft. Erst im Dezember 1961 – 14 Jahre nachdem Großbritannien Indien in die Unabhängigkeit entlassen hatte – räumten die Portugiesen schließlich vor dem drohenden Einmarsch indischer Truppen das Feld.
Im letzten Jahrzehnt ihrer Herrschaft hatte die Kolonialverwaltung aber noch im großen Stil Schürflizenzen vergeben. 14 Prozent des gerade 3.700 Quadratkilometer großen Territoriums gelten heute als Bergbaugebiet. Der Bundesstaat gleicht in weiten Teilen einer lebensfeindlichen Marslandschaft, von Kratern durchlöchert und von rotem Staub bedeckt. Im Tagebau werden Eisen und Mangan gefördert. Teilweise in Kleingruben mit primitiven Geräten, teils in riesigen Bergwerken mit internationaler Kapitalbeteiligung. 14 Millionen Tonnen Eisenerz exportiert der Ministaat jedes Jahr. Seine gesicherten Reserven von 400 Millionen Tonnen werden sich erst in zwei Jahrzehnten erschöpfen. Keine guten Aussichten für die Bauern, die in unmittelbarer Nachbarschaft einer der Minen leben müssen.
Philip Neri, ein Laienbruder beim Salesianerorden, beschäftigt sich seit langem mit denen, deren bisheriges Leben der Bergbau zerstört hat. Pissurlem ist für ihn ein Musterbeispiel, wie ein Dorf vernichtet werden kann. Der rührige Seelsorger ist nicht als Mann der Kirche zu erkennen. In seinen abgetragenen Ledersandalen, dem beigefarbenen Polohemd und der Baseballkappe auf der hohen Stirn unterscheidet er sich nicht von den Bauern, die mit dem Anbau von Reis und Gemüse gerade das Lebensnotwendige erwirtschaften.
Für die Behörden und vor allem die Bergwerksbetreiber der Region ist er schon lange zum roten Tuch geworden. Er macht Eingaben, fordert Umweltverträglichkeitsprüfungen ein und begleitet Bauern zu Gerichtsterminen. Bei den Salesianern sind schon mehrere Beschwerden eingegangen, der Bruder wiegle die Bauern auf. Auch manchen Ordensvätern geht sein Engagement zu weit, doch bisher ist er vom Orden zumindest nicht zurückgepfiffen worden.
In Pissurlem sind alle 300 Brunnen versiegt. Das Trinkwasser kommt im Tankwagen: Gratis – es ist eine Spende der Bergbaugesellschaften, die sehr wohl wissen, dass sie die Dürre verursacht haben. Der Wohlstand, den sie den Dorfbewohnern einst versprachen, ist ausgeblieben. Nur gelegentlich wird einer für einen dürftigen Tageslohn angestellt. Nur zwei junge Männer hatten feste Arbeit. Einer von ihnen ist nach zweijährigem Siechtum gestorben: an Nierensteinen und Tuberkulose. Ein Zusammenhang der typischen Bergbaukrankheiten mit der Arbeit in der Grube wurde nie untersucht.
Philip Neri, der erkannt hat, dass die Bauern zur Landwirtschaft keine echte Alternative haben, versucht die Dorfbewohner zu ermuntern, ihr Anliegen gemeinschaftlich zu vertreten. Die Einwohner von Pissurlem wirken resigniert. In Dandolem einer anderen Dorfgemeinschaft, rund 50 Kilometer weiter südlich, ist der Widerstand gegen eine benachbarte Mine schon viel konkreter. Saptu Faterpenkar pflegte 60 bis 70 Tonnen Zuckerrohr jährlich zu ernten, die Bananen gediehen prächtig und die Betelnuss hatte einen guten Markt. Doch seit fünf Jahren bleibt das Wasser aus. Die Erträge des Zuckerrohrfelds werden von Ernte zu Ernte geringer. Letztes Jahr sind auch die Betelnussbäume eingegangen. Nur das in einiger Entfernung gelegene Reisfeld trägt noch Frucht. Allerdings ist auch da immer weniger zu holen.
Der Brunnen der Familie gleicht einer leeren Grube: Er ist etwa 5 Meter tief und 8 Quadratmeter groß. Das trübe Wasser steht keinen halben Meter hoch. Sunnita, mit 23 Jahren die älteste Tochter, findet diesen Wasserstand noch prächtig, verglichen mit dem vom letzten Jahr: „Wenn die Grabungen in der Mine richtig losgehen, trocknet der Brunnen aus.“ Damals konnte man gerade mit einer Kokosnussschale aus einem kleinen Loch Wasser schöpfen. Die Frauen beschwerten sich bei den Minenbetreibern und setzten durch, dass die Pumpen abgestellt werden. Drei Tage später gab es wieder Wasser. Allerdings war es so schmutzig, dass selbst das Vieh krank wurde. Für die Bewässerung der Felder war es zu wenig. Die Mutter musste all ihren Schmuck verkaufen, um einen Kredit abzuzahlen. Andernfalls hätte die Familie ihr Land verloren.
Auf dem Gelände der Timblo Private Ltd. schiebt ein Bagger das erzhaltige Geröll auf eine Halde. Dann wird es auf eine riesige Aufbereitungsmaschine gehoben und gereinigt. Das Wasser, das bei den Grabungen zu Tage tritt, füllt einen kraterartigen See. Herr Sanjay Kumar Singh, der Manager des Bergwerks, ist überzeugt, dass alles bestens geregelt ist: „Das Wasser sammelt sich in der Grube, die so tief ist, dass sie nicht überrinnen kann. Vielleicht sickert ein bisschen durch, aber es wird ja von uns gereinigt.“ Was meint er dazu, dass die umliegenden Brunnen ausgetrocknet sind? Wenn es sein müsse, wolle er sich das ansehen, aber: „Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass das Quellwasser durch unsere Grabungen betroffen wird.“
Das verunreinigte Wasser, eine rotbraune Suppe, wird kaum 200 Meter hinter der Mine in den nächsten Bach abgeleitet. Die Bauerntochter Sunnita steigt hinein und versinkt bis über das Knie im Schlick. Eine Umweltkatastrophe wie vor einigen Jahren kann sich jederzeit wiederholen. Philip Neri: „Im Jahr 2000 barsten die Dämme, und die Flüsse rundum wurden total verschlammt. Man konnte nicht einmal erkennen, dass es Flüsse waren. Das Wasser verschwand völlig.“ Die Bewohner der betroffenen Siedlungen zogen daraufhin vor Gericht. Das gab ihnen Recht und ordnete an, dass die Bergwerksgesellschaften den Schlick entfernen müsse. Das ist mühsam und teuer und sollte eigentlich jedes Jahr nach dem Monsun gemacht werden. Sobald der Schlamm entfernt war, kam das Wasser zurück.
Die Timblo Mine hat eine Schürflizenz für eine Fläche von 90 Hektar. Etwa 800.000 Tonnen Erz werden jährlich exportiert. Im nahe gelegenen Flusshafen wird das Erz auf Barkassen verladen. Von dort geht es in den Seehafen Mormugao, wo es auf Großschiffe verladen und schließlich nach Fernost exportiert wird. Vor allem nach China.
Bis zu 6.000 Lkws rattern an normalen Arbeitstagen über die schmalen Landstraßen und hüllen die Landschaft in roten Staub. Eine Volksschule, die direkt an der Straße liegt, bekommt täglich mehr metallhaltigen Staub ab, als erwachsenen Menschen zuträglich ist. Untersuchungen über die gesundheitlichen Folgen der Staubbelastung für Schulkinder gibt es allerdings nicht. Denn auch viele Dorfbewohner haben ihr Erwerbsleben an den Bedürfnissen der Bergbauindustrie orientiert. Der Umweltjournalist Sarvanand Dessai kennt deren Standpunkt: „Viele Dorfbewohner profitieren auf die eine oder andere Weise vom Bergbau. Sie haben Lastwagen gekauft und transportieren das Erz.“ Da sie natürlich auf Pump gekauft haben, sind sie jetzt hoch verschuldet. Wenn der Bergbau eingestellt wird, dann bekommen sie keine Aufträge mehr und können ihre Kredite nicht mehr bedienen. Einige haben auch Arbeit in den Gruben.
Rajiv Narain kann keiner was vormachen. Der 60-jährige Presseveteran gibt seit vielen Jahren die Wochenzeitung Goan Observer heraus und hält die wirtschaftliche Bedeutung des Bergbaus für weit überschätzt: „Die Bergbaugesellschaften verbreiten das Märchen, dass die Schließung der Gruben zu massiver Arbeitslosigkeit, Auswanderung und Elend führen würde.“ Der Anteil des Bergbaus am Bruttoinlandsprodukt von Goa sei aber seit der Zeit der Befreiung von der portugiesischen Kolonialherrschaft von über 20 Prozent auf etwa 6 Prozent zurückgegangen. Das Erz von Goa ist mit einem durchschnittlichen Eisengehalt von 62 Prozent minderwertig.
Wenn die Olympischen Spiele 2008 in Peking nicht einen gewaltigen Bauboom ausgelöst hätten, wäre es gar nicht exportfähig. Jetzt wurden stillgelegte Gruben reaktiviert, und in den anderen wurde das Fördertempo erhöht. Denn der durch die Olympischen Spiele ausgelöste Bauboom hat eine enorme Nachfrage selbst nach dem schlechtesten Erz ausgelöst. So wurden sogar bisher unrentable Minen wiederbelebt und dort, wo mit eher altmodischer Technologie abgebaut wurde, steht jetzt modernes Gerät, das die Fördermenge vervielfacht hat.
Auf Naturschutzgebiete wird dabei ebenso wenig Rücksicht genommen, wie auf die Bedürfnisse der Landwirtschaft. Und das, obwohl, wie Narain betont, Goa derzeit nicht einmal den eigenen Bedarf an Grundnahrungsmitteln decken kann.