kommentar : Putin fehlt im Kaukasus der Mut zu einer politischen Lösung
Zwei zeitgleich in die Luft gesprengte Passagierflugzeuge, ein mörderischer Anschlag vor einer U-Bahn-Station in Moskau und jetzt die gewaltsame Besetzung einer Schule mit dem Kidnapping hunderter Kinder und ihrer Eltern: Die Antwort auf die inszenierten Präsidentschaftswahlen in Tschetschenien hätte nicht deutlicher sein können. Der Krieg erreicht eine neue Dimension. Zwar hat es mit der Besetzung eines Krankenhauses in Budjonowsk vor fast zehn Jahren und der Geiselnahme im Theater in Moskau schon in der Vergangenheit spektakuläre Überfälle gegeben, doch die Akteure zeigen, dass Terror immer noch gesteigert werden kann.
Putin, der vorgestern noch freundlich mit Schröder und Chirac am Schwarzmeerstrand parlierte und heute Abend bereits wieder als großer Staatsmann in Ankara erwartet wird, hat in der Vergangenheit oft genug bewiesen, dass Gewalt die Sprache ist, die ihm am nächsten liegt. Friedliche Lösungen hat der russische Präsident im Konflikt um Tschetschenien nie angestrebt. Seine Amtszeit begann mit dem Krieg im Kaukasus, die Blutspur des Krieges zieht sich durch seine gesamte bisherige Präsidentschaft.
Der Rest der Welt, insbesondere Europa und die USA, hat sich bislang gegenüber Putins Totschlagpolitik im Kaukasus weitgehend gleichgültig verhalten. Da hat die Yukos-Affäre allemal für mehr Aufregung gesorgt. Man trifft sich, um über den Irak, Öl- oder Gaslieferungen der Zukunft zu reden, Tschetschenien ist kein Thema. Selbst wenn Putin sich in Gegenwart von Chirac und Schröder in offensichtlicher Verdrehung der Tatsachen zum Vorkämpfer gegen den internationalen Terrorismus erklärt, bleiben diese stumm.
Dabei wäre es allerhöchste Zeit, dass EU-Europa den russischen Präsidenten in aller Freundschaft dazu auffordert, im Kaukasus endlich eine politische Lösung anzustreben, statt aus einem eng begrenzten Autonomiekonflikt einen regionalen Flächenbrand zu machen, der letztlich in ein globales Konfliktschema gebombt wird, mit dem er eigentlich nichts zu tun hatte. Die Fortsetzung der russischen Kaukasuspolitik kann nur zu immer katastrophaleren Ergebnissen führen. Putin muss das wissen. Aber entweder fehlt ihm die Größe zu einem echten Verhandlungsfrieden, oder, noch schlimmer, er benutzt den Konflikt gezielt zu einer Remilitarisierung der russischen Gesellschaft. In beiden Fällen wird sich das Wegschauen über kurz oder lang auch für den Westen bitter rächen. JÜRGEN GOTTSCHLICH