: Łódź entdeckt das Ghetto
AUS WARSCHAU UND ŁÓDŹĽGABRIELE LESSER
„Ich hätte eine Brücke schön gefunden. Eine Holzbrücke über die Zgierska-Straße. Sie ist doch das Symbol für das Ghetto Łódź.“ Marian Turski, einer der wenigen Überlebenden des Ghettos Litzmannstadt, wie die Nazis die Stadt ab 1940 nannten, sitzt müde auf dem Redaktionsflur des Warschauer Nachrichtenmagazins Polityka. Trotz seiner 78 Jahre arbeitet er noch als Journalist. „Jetzt haben sie in Łódź eine Gaskammer gebaut und ein Krematorium.“ Hilflos hebt er die Hände. „Was soll ich dazu sagen? Das ist eben künstlerische Freiheit. Besser ein schlechtes Denkmal als gar keines.“
Als habe er sich zu weit vorgewagt, rafft Turski hastig Papiere und Zeitungen zusammen. Dies sei nicht als Werturteil zu verstehen, noch habe er das Denkmal ja nicht gesehen. Außerdem sei der Architekt Jude. Das mache das Denkmal trotz allem glaubwürdig. „Das Leben im Ghetto? Nein, ich habe es nie aufgeschrieben und auch nie erzählt.“ Marian Turski nickt den Kollegen zu, die vorbeikommen. Er wolle darüber nicht reden. Nicht über das Ghetto, nicht über Auschwitz, nicht über den Todesmarsch nach Buchenwald und später Theresienstadt. „Ich war 19, wog noch 32 Kilo und hatte Typhus. Damals bin ich fast gestorben. Fast.“
Der Bahnhof Łódź Fabryczna liegt mitten in der 800.000-Einwohner-Stadt Łódź, die rund 120 Kilometer südwestlich von Warschau liegt. Die Bahnhofshalle ist düster. „Łódź stand immer im Schatten von Warschau“, meint Hubert Rogoziński und lässt den Motor seines Wagens aufheulen. „Die Warschauer lassen uns nicht hochkommen. Alle wichtigen Entscheidungen werden dort getroffen. Und mit mehreren Hochschulen und vielen Unternehmen sind wir natürlich eine Konkurrenz für Warschau.“ Deshalb bauten die Warschauer auch die Zugstrecke nicht aus. Für Bummelzüge aber brauche Łódź keinen Superbahnhof.
Rogoziński trägt um den Hals eine silberne Kette mit einem Davidstern. Er ist in Łódź zuständig für Touristen aus Israel, den USA und anderen Ländern, die nur koscher essen. Rogoziński, mit 42 schon weißhaarig, aber noch jung und sportlich, fährt direkt zum ehemaligen Bahnhof Radegast und dem Mahnmal für das Ghetto Litzmannstadt, an dem zum Teil immer noch gebaut wird. Das neue Mahnmal in Gestalt eines Krematoriums ist schon von weitem zu sehen: ein massiver quadratischer Sockel, darauf ein breiter, sich nach oben verjüngender Schornstein. „Du sollst nicht töten“ steht darauf, in Hebräisch, Polnisch und Englisch. Bauarbeiter in weißen Unterhemden stehen abseits und diskutieren, wo sie die nächste Betonwand gießen sollen. Hier, neben dem „Krematorium“ entsteht eine elf Meter lange „Gaskammer“, ein „Tunnel“, wie der Architekt Czesław Bielecki das Bauwerk nennt. Das einzige Licht wird aus Vitrinen fallen, in denen Besucher die Namen von einigen zehntausend Juden lesen können, die vom Bahnhof Radegast aus in die Konzentrations- und Vernichtungslager Kulmhof an der Nehr und Auschwitz transportiert wurden. „Łódź war vor dem Zweiten Weltkrieg die zweitgrößte jüdische Gemeinde Polens. Nur Warschau war noch größer. Ein Drittel aller Einwohner waren Juden – über 200.000“, erzählt Rogoziński.
In der Stadt erinnert heute nicht viel an sie. Selbst der Bahnhof Radegast, von dem die Deutschen 1940 bis 1945 knapp 200.000 Menschen ins Gas schickten, war bis vor kurzem ein heruntergekommenes Gebäude. Jetzt ist er renoviert, selbst Waggons aus der Nazizeit wurden in einer Remise gefunden. Sie stehen nun auf den Gleisen in Richtung Chełm, das nach der Annektierung Westpreußens und des Warthelandes durch die Nazis wieder Kulmhof hieß. Rogoziński deutet auf das Gleis, das nach Auschwitz führt: „Krupp 1939“ steht darauf.
„Ich wohne hier schon dreißig Jahre“, erzählt eine Passantin. Nie hat uns jemand gesagt, dass hier mal Juden gewohnt haben. Na, jetzt reden natürlich alle darüber.“ Die arbeitslose Schneiderin findet gut, dass endlich mal jemand die Wahrheit sagt. Von Juden hätte man immer nur gehört, dass sie alle umgebracht worden seien. Auf das Denkmal könnte sie allerdings verzichten. „Am alten Bahnhof war mal ein Kinderspielplatz geplant. Das hätten wir besser gefunden. Oder ein Supermarkt. Hier gibt es ja nichts. Jetzt steht da eine Gaskammer. Na ja.“ Ein Jugendlicher mit kurz geschorenen Haaren spuckt erst mal durch eine Zahnlücke, bevor er antwortet: „Die Juden sind doch weg. Wozu bauen die da jetzt noch ein Krematorium? Das wird sowieso nur beschmiert und demoliert. Wir hier im Viertel sind alle arbeitslos. Hätten die mal lieber was für uns getan.“
Nur ein älterer Mann nickt bedächtig: „Das hätten sie schon viel früher machen sollen. Ich wohne hier in einem Haus neben dem Bahnhof. Ich bin nicht sehr gebildet, habe nur drei Jahre Volksschule besucht. Aber so was, das muss man doch wissen.“ Er wischt sich über die Augen. „Ich schäme mich direkt, dass ich das nicht wusste. Hier haben überall Juden gewohnt, und alle wurden ermordet. Das ist doch unfassbar.“
Rogoziński erzählt, dass in der jüdischen Gemeinde die Meinungen zum Mahnmal geteilt seien. „Ich hätte alles so hergerichtet, wie es 1945 aussah. Im Bahnhof hätte ich eine Fotoausstellung mit ein paar Texten untergebracht. Aber eine Gaskammer zu bauen, die es hier nie gegeben hat – das finde ich geschmacklos.“ In der Gemeinde aber seien viele froh, dass überhaupt jemand auf die Idee kam, an das Ghetto zu erinnern. Rund fünf Millionen Złoty, etwa 1,25 Millionen Euro, soll das Ganze kosten, wenn es fertig ist, munkelt man in der Stadt. Im Haushalt vorgesehen war nur eine Million. „Das könnte für den Stadtpräsidenten noch ein Problem werden“, meint Rogoziński und startet den Wagen. Auf dem Rücksitz liegen Broschüren und großformatige Fotos in Schwarz-Weiß. Wenn jemand die jüdische Geschichte von Łódź kennen lernen, etwas über Häuser, Familien und den über 40 Hektar großen Friedhof erfahren will, landet er irgendwann bei Rogoziński. „Nu“, meint er, „man kennt mich halt in der Welt.“
Vor der Stadtverwaltung in der Piotrowska-Straße, der großen Flaniermeile der ehemaligen Textilmetropole Łódz, stehen Schautafeln, an denen Fahrräder gelehnt sind. „Łódź in der Okkupationszeit“ steht über den bräunlichen Bildern. „Der 60. Jahrestag der Liquidierung des Gettos Litzmannstadt ist unsere letzte Chance, der Welt zu zeigen, dass wir unsere Juden nicht vergessen haben“, erklärt Jerzy Kropiwnicki, der Stadtpräsident von Łódź. „Ich komme nicht aus Łódź. Ich kann gar nicht begreifen, wieso keiner meiner Amtsvorgänger an die Juden in dieser Stadt erinnert hat? Als ich hierher kam, war mir das Ausmaß dieser Tragödie gar nicht klar. Nichts erinnerte daran. Dabei haben die Nazis fast 200.000 Łódźer Juden abtransportiert und in Kulmhof oder Auschwitz vergast!“
Jerzy Kropiwnicki, der auch Parteivorsitzender des rechten Christlich-Nationalen Bundes ist, war bisher nicht durch Toleranz, Mitgefühl oder Verständnis für Juden aufgefallen. Die Wandlung des eifernden Nationalkatholiken in einen Bürgermeister mit historischer Einsicht ist für viele Łódźer und auch Parteifreunde Kropiwnickis so überraschend, dass sie noch keine Antwort auf die Frage nach dem Warum gefunden haben. Bevor der Rechtsaußen zum Stadtpräsidenten gewählt wurde, galt Łódź als Hochburg der polnischen Antisemiten. Die ganze Stadt war zugeschmiert mit „Jude raus“ und „Ab ins Gas“. Fußballfans beleidigten sich gegenseitig mit „Judenstürmer“, pinselten Galgen mit Davidsternen oder Hakenkreuze an Wände.
„So geht das nicht“, entschied Kropiwnicki. „Die Leute hier müssen wissen, was geschehen ist. Ich will, dass auch mein Sohn und mein Enkel das wissen.“ Die Polen seien Zeugen eine gigantischen Verbrechens geworden, und es sei ihre Pflicht, von dieser Tat Zeugnis abzulegen. „Ich bin kein Jude. Mir fehlt jede jüdische Empfindlichkeit. Und so hatte ich Angst, etwas falsch zu machen. Ich will schließlich niemanden verletzen, sondern den Opfern meine Ehre erweisen.“ Aus diesem Grund habe er einen jüdischen Architekten mit dem Entwurf für das Denkmal betraut, außerdem eng mit der jüdischen Gemeinde von Łódź zusammengearbeitet. Zudem wurden die Gedenkfeiern auf mehr als ein Jahr ausgedehnt, so dass auch die Medien ständig über das Ghetto Litzmannstadt berichten.
„Es ist wirklich viel passiert“, sagt auch Joanna Podolska. Vor über zehn Jahren hatte die Journalistin mit Jugendlichen begonnen, die antisemitischen Schmierereien in der Stadt zu übermalen. „Heute schämen sich manchmal Hauseigentümer, wenn so ein Hakenkreuz oder ein ‚Jude raus‘ an ihrem Haus prangt“, erzählt sie. „Die Leute sind nicht mehr so gleichgültig. Sie übermalen die Graffiti selbst. Das ist schon viel.“