: Abschiebung in die Sahara
Eine Million Einwanderer lebt allein in Libyen. Das Land versucht sie schon an der Südgrenze abzufangen. Ebenso wie andere Maghreb-Staaten
VON DOMINIC JOHNSON
Noch vor wenigen Jahren brachte die „Hollgan Star“ humanitäre Hilfe für die UNO nach Sierra Leone. Am vergangenen Wochenende wurde das alte Frachtschiff im sierra-leonischen Hafen Freetown von den Behörden festgesetzt. „Mehr als 500 Immigranten hatten sich unter Kontrolle von Mafiagruppen damit auf den Weg zu den Kanarischen Inseln gemacht“, verkündete stolz der spanische Präfekt der Kanaren, José Segura, bei der Bekanntgabe der Sicherstellung des Schiffes und der Festnahme seiner Crew.
Nicht nur aus Sierra Leone, so wussten danach spanische Medien, sondern auch aus Guinea, Senegal und anderen Küstenstaaten Westafrikas seien inzwischen Schiffe voller Migranten Richtung Kanaren unterwegs. Denn die Landroute über Marokko sei inzwischen so gut überwacht, dass die „Schlepper“ immer weiter nach Süden auswichen. Die Abwehr illegaler Einwanderung aus Afrika nach Europa findet längst tief in Afrika statt.
Schon in den 90er-Jahren sagten Marokko, Algerien und Tunesien ihren EU-Partnern zu, illegale Migranten aus Drittstaaten zurückzunehmen, die über Nordafrika nach Europa reisen und dort verhaftet werden. Im Gegenzug versprach die EU den Ländern des Maghreb Hilfe beim Ausbau ihrer Grenzkontrollen. Außerdem werden immer mehr Schwarzafrikaner im Maghreb wegen Verletzung der Aufenthaltsbestimmungen aufgegriffen: rund 15.000 pro Jahr in Marokko, knapp 7.000 aus Algerien allein im Jahr 2001.
Aber erst seit Ende 2003 ist die Grenzabwehr richtig systematisch geworden. Kurz hintereinander verabschiedeten damals Marokko und Tunesien umfassende scharfe Gesetze gegen illegale Einwanderung. Marokko und Spanien vereinbarten gemeinsame Grenzpatrouillen, Italien erwog schon damals die Einrichtung von Lagern in Libyen.
Am 30. November 2003 begann aus Marokko die erste Massenabschiebung von Schwarzafrikanern per Charterflug: 416 illegale Einwanderer wurden nach Nigeria geschickt. Vier Tage später folgten weitere 207, seitdem geht es stetig weiter: 480 „Schüblinge“ am 28. Dezember, 357 am 14. Januar, 236 am 23. April 2004. El-Ayoun, Hauptstadt der marokkanisch besetzten Westsahara, nahm im Februar 2004 die ersten zurückgeschobenen Schwarzafrikaner aus den Kanaren auf. Von der EU kriegt Marokko nun über drei Jahre 40 Millionen Euro zum Kampf gegen illegale Migration.
Die Abschiebungen aus Marokko finden unter fragwürdigen Bedingungen statt, kritisiert die marokkanische Migrantenvereinigung AFVIC (Freunde und Familien der Opfer illegaler Einwanderung). So fänden die Gerichtsverfahren, bei denen Abschiebung als Urteil fällt, auf Arabisch ohne Dolmetscher statt, und manchmal würden die Opfer einfach hinter der algerischen Grenze in der Wüste zurückgelassen. „Marokko ist verpflichtet, Aufnahmezentren zu bauen, um die Transitbedingungen unserer subsaharischen Brüder so menschlich wie möglich zu gestalten“, forderte jüngst AFVIC-Präsident Khalil Jemmah.
Grundsätzlichere Kritik gibt es bei der „Vereinigung maghrebinischer Arbeiter in Frankreich“ (ATMF), größter Verband nordafrikanischer Emigranten in Europa. „Die EU versucht, über die Entwicklungshilfe ihren südlichen Partnern die Rolle eines Wächters aufzuzwingen“, erregt sich der Verband: „Der marokkanische Staat hat sich zur Verfügung gestellt, diesen neuen Eisernen Vorhang zu bewachen.“
Das hat eine Verschlechterung des sozialen Klimas zur Folge. Über eine Zunahme des Rassismus von Arabern gegen Schwarze klagen Betroffene in allen Maghreb-Staaten. Deren arabische Bewohner vergessen oft, dass in Nordafrika schon immer Schwarze gelebt haben. Heute werden diese Minderheiten mit illegalen Einwanderern gleichgesetzt und leiden immer häufiger unter Polizeiwillkür.
Nach einer Studie des marokkanischen Professors Mehdi Lahlou kommen jedes Jahr 65.000 bis 80.000 Migranten aus dem Afrika südlich der Sahara in den Maghreb. Zwanzig Prozent von ihnen landen in Algerien und reisen von dort aus nach Marokko weiter, die anderen 80 Prozent landen in Libyen. In der größten südalgerischen Stadt Tamanrasset sind mittlerweile die Hälfte der 65.000 Einwohner Schwarzafrikaner, und viele bleiben nicht lange. Auch Agadez in Niger und Gao in Mali sind bewährte Transitstädte für Afrikas Wanderer. Das Geschäft mit den Migranten hält dort ähnlich wie das mit Zigaretten oder Waffen die örtliche Schmuggelwirtschaft am Leben.
Aber neuerdings beginnen auch in Tamanrasset, wo Algeriens Armee die größte ständige Kaserne der Saharawüste unterhält, Razzien gegen Ausländer. Und vor allem Libyen wird für afrikanische Migranten immer ungastlicher. Von Libyens 5,5 Millionen Einwohnern kommen jeweils rund eine halbe Million aus den südlichen Nachbarländern Tschad und Sudan und eine weitere halbe Million aus anderen afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Gerne behaupten die Regierungen Libyens und Italiens im Einklang, das seien alles illegale Migranten auf dem Weg nach Europa. Am 8. August verkündete Libyens Regierung, sie wolle sämtliche Illegalen ausweisen, und machte öffentlich Stimmung gegen die „Invasion“ aus Afrika. Mehrere Charterflüge nach Ghana hat es schon gegeben. Die Opfer hatten teils jahrelang in Abschiebehaft gesessen.
Die Abschottung der Südgrenzen des Maghreb interessiert nicht nur die Migrationspolitiker der EU, sondern auch die Terrorbekämpfer der USA. Bessere Grenzkontrollen in der Sahara, Luftraumüberwachung und technische Hilfe durch mobile US-Militärteams sind die nordafrikanische Dimension des internationalen „Krieges gegen den Terror“ vor allem seit der monatelangen Entführung europäischer Touristen in Südalgerien vergangenes Jahr. Das dient, wie auf Nato-Tagungen offen angesprochen wird, auch der Abwehr der illegalen Migration.
Aber je mehr Afrikaner schon in Afrika selbst zurückgewiesen werden müssen, desto mehr wächst in Afrika der Unmut. „Wenn Spanien seinen kleinen Südrand nicht kontrollieren kann, wie soll das Marokko mit seiner Südgrenze und seiner immensen Küste machen?“, fragte kürzlich La Gazette du Maroc. Letzte Woche schrieb Marokkos führende Tageszeitung Libération in einem Artikel mit dem Titel „Asylzentren für klandestine Migranten: Werden die Länder des Maghreb das akzeptieren?“ von einer „schlechten Idee“ und forderte die EU auf, lieber eine vernünftige Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika zu machen. Denn eines können alle Abschottungsdiskussionen nicht ändern: 300 Millionen junge Menschen drängen in den nächsten zehn Jahren auf Afrikas Arbeitsmärkte. Höchstens ein Zehntel wird nach Berechnungen der Internationalen Arbeitsorganisation in der Heimat Jobs finden.