: Brauchen wir Hartz IV?
ja
Das bisherige Sozialsystem sichert den Wohlstand Arbeitsloser auf Kosten von Arbeitsplätzen. Das Hartz-Prinzip des „Förderns und Forderns“ macht Sinn.
Harz IV markiert einen Systemwechsel. Natürlich musste sich ein Arbeitsloser auch bisher einschränken. Doch sein erarbeitetes Vermögen geriet nicht in Gefahr: Einer arbeitslosen Managerin ging es noch immer besser als einem beschäftigten Facharbeiter. Sind Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe erst auf dem Niveau letzterer zusammengelegt, rutscht jeder auf die gleiche – niedrige – Stufe. Der Staat bietet nur noch eine Grundsicherung.
Darf ein Sozialstaat das tun? Er darf nicht nur, er muss.
Er darf kürzen. Denn schließlich ist die Arbeitslosenhilfe keine Leistung, die aus der Arbeitslosenversicherung bezahlt wird, sondern allein vom Staat – ganze 16,5 Milliarden Euro brachten die Steuerzahler dafür im vergangenen Jahr auf. Die bange Frage vieler Hartz-Kritiker, ob sie sich im Falle längerer Arbeitslosigkeit noch ihr Haus leisten könnten, ob sie über ein Erbe frei verfügen dürften, sind verständlich. Was sollen aber Busfahrer und Kassiererinnen sagen, die bei kargen Gehältern von solch Wohlstand nur träumen können? Und die dennoch das bisherige System mit zu finanzieren haben.
Er muss kürzen. Denn seit Jahren manövriert der Staat am Rande seiner Leistungsfähigkeit. Hohe Zins- und Tilgungsraten lasten auf dem Etat. In seiner Not spart der Staat bei den Investitionen, und vernichtet so ausgerechnet bei schwacher Konjunktur weitere Jobs. Und er kann auch für Bildung und Forschung nicht genug tun – die Basis künftigen Wohlstands. Die Lohnnebenkosten sind schon hoch genug. Kein Industriestaat gibt einen so großen Teil seiner Wirtschaftsleistung für Sozialabgaben aus wie Deutschland.
Das macht den Faktor Arbeit teurer und bietet einen fatalen Anreiz, weiter Jobs wegzurationalisieren. Deshalb war es wichtig auch die bis zu 32-monatige Bezugsdauer des Arbeitslosengelds im Rahmen der Hartz-Gesetze auf allerhöchsten 18 Monate zu deckeln. Zurzeit reicht das viele Geld der Arbeitslosenversicherung nicht einmal aus, Arbeitslosengeld und Arbeitsmarktprogramme zu finanzieren. Rund 6 Milliarden Euro muss der Bund der Bundesagentur für Arbeit zuschießen.Auch wenn hier einige Details verbesserungswürdig sind: Das Hartz-Prinzip des „Förderns und Forderns“ macht Sinn. Die Erfahrungen der übrigen Industriestaaten zeigt, dass intensivere Jobvermittlung tatsächlich die Arbeitslosigkeit erheblich reduzieren kann.
Ein Beispiel: Augsburger Arbeitsvermittler brachten erfahrene Eishockeyspieler unter den Aussiedlern dazu, als Jugendtrainer zu arbeiten. Arbeitsvermittlung muss also nicht immer bloß bedeuten, einen der raren Fließbandjobs zu verteilen, sondern kann neue Arbeit schaffen. Gleichzeitig gilt: Umso länger in Deutschland Menschen ohne Arbeit sind, desto schwerer lassen sie sich vermitteln. Doch kurz vor Ende des Arbeitslosengelds steigt die Erfolgsquote sprunghaft an: Die Erwerbslosen geben sich mehr Mühe, akzeptieren auch schlechtere Jobs.
Die Regierung Schröder klagt gern, sie habe ein „Kommunikationsproblem“. Das hat sie tatsächlich, nur anders als sie uns weismachen will. Der Fehler bestand darin, nur vage davon zu reden, die Sozialsysteme „zukunftsfähig zu machen“. Das klingt nach ein wenig Sparen. In Wirklichkeit war ein Systemwechsel nötig: Das hätte die Regierung von Anfang an ehrlich kommunizieren müssen. Vielleicht hoffte der Kanzler, dass sich Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger – wie bisher – mangels Lobby kaum bemerkbar machen würden. Tatsächlich ist es überraschend, dass etwa die Bild-Zeitung, der die Stütze für „Florida-Rolf“ und andere angebliche Sozialschmarotzer nie niedrig genug sein konnte, nun ihr Herz für Arme entdeckt.
Die Armutsangst ist in der Mittelschicht angekommen. Und weil ihr die Regierung nackte Sozialhilfe doch nicht zumuten wollte, stellt Hartz IV viele Stützeempfänger nach der Zusammenlegung der Sozialsysteme künftig etwas besser als bisher. Vielleicht sollte man vor allem dort nachbessern: Ist es nicht viel gerechter, die Grundsicherung für alle noch ein wenig anzuheben, als weiterhin einige zu privilegieren – nur weil sie schon vor ihrer Arbeitslosigkeit besser lebten? MATTHIAS URBACH
Fotohinweis: MATTHIAS URBACH, 37, ist Parlamentskorrespondent der taz mit den Schwerpunkten Wirtschafts- und Umweltpolitik. FOTO: CHRISTIANE VON ENZBERG
nein
Funktionieren könnte Hartz IV nur, wenn es mehr Jobs gäbe. Aber das ist nicht der Fall. Die richtige Alternative heißt: Arbeitszeitverkürzung.
Hartz IV wird überschätzt – von beiden Seiten. Hartz IV ist eine Chiffre für die Verarmungsängste der Mittelschicht geworden, deshalb heften sich überzogene Befürchtungen daran. Auf der anderen Seite erklärt die Schröder-SPD das Ganze in verzweifelter Arroganz für alternativlos. Nüchtern gesehen stellen sich zwei Fragen: Wird Hartz IV mehr Verschlechterungen oder Verbesserungen bringen? Und: Taugt die Reformphilosophie, die dahinter steht, dazu, die Probleme der Arbeitsgesellschaft einer Lösung näher zu bringen?
Faktisch macht Hartz IV rund 2 Millionen Empfänger von Arbeitslosenhilfe zu Empfänger einer leicht gelifteten Sozialhilfe. Knapp 1, 5 Millionen werden weniger als derzeit bekommen. Damit spart der Staat etwa 3 Milliarden Euro im Jahr. Ob jemand nie in Lohnarbeit war oder ob jemand am Reichtum der Gesellschaft mitgewirkt hat, wird nun nach 12 Monaten Arbeitslosengeld keinen Unterschied mehr machen. Danach gelten für alle die neuen, harten Regeln: Wer etwa mehr als 8.600 Euro Vermögen hat, wird (wenn er sich an das Gesetz hält), von dem Überschuss erst mal leben müssen.
Hartz IV setzt die Arbeitslosen unter Druck. Der Arbeitslose muss flexibel sein, er muss umziehen, er muss jede Arbeit annehmen. Aber bei 300.000 offenen Stellen und 4, 3 Millionen Arbeitslosen, ist dies ein Druck ohne Sinn. Es ist banal: Funktionieren könnte Hartz IV nur, wenn es mehr Jobs gäbe. Offenbar glaubt die Schröder-SPD noch immer, dass millionenfache Arbeitslosigkeit eine Art Spuk ist, den man mit Deregulierung und Senkung des Spitzensteuersatzes vertreiben kann. Irgendwie wird es schon wieder aufwärts gehen. Dafür setzt man die Arbeitslosen heute schon mal präventiv unter Druck. Da die Hoffnung auf den Aufschwung ein Kinderglaube ist, wird Hartz IV ein ohnehin dramatisches Problem verschlimmern: die Altersarmut. Ältere haben auf dem Arbeitsmarkt schlicht keine Chancen, das Fördern ist bei ihnen noch wirkungsloser als bei anderen. Bislang bekommt, wer über 55 und arbeitslos ist, bis zu zweieinhalb Jahre Arbeitslosengeld, danach Arbeitslosenhilfe. Nun werden daraus höchstens eineinhalb Jahre, danach kommt Alg II mit 345 Euro. Faktisch heißt das: Wer über 50 ist und seinen Job verliert, wird nach kurzer Zeit zum Sozialfall. Auch wenn er Erspartes hat, nutzt ihm das nicht viel. Denn das muss er – bis nur noch 13.000 Euro übrig sind – verbrauchen (es sei denn, er schafft mit es mit Tricks beiseite).
In Hartz IV ist dieses Problem erkannt, aber nicht gelöst: Die Riester-Rente zählt nicht zum Vermögen, die Rentenversicherung, die erst mit 65 monatlich ausgezahlt werden, auch nicht. Aber eben alles andere. Altersarmut wird es, angesichts wohl notwendigerweise sinkender Renten, ohnehin geben, Hartz IV wird sie verschärfen und auf Mittelschichtler ohne Job ausweiten.
Bleibt die Frage: Was ist die Alternative zur Hartz-Politik? Es mag altmodisch klingen – aber die grundsätzliche Alternative ist noch immer die Arbeitszeitverkürzung. Denn in einer Ökonomie, die auf dauernder Rationalisierung fußt, die menschliche Arbeit – zum Glück – teilweise überflüssig macht, wird Arbeit zum knappen Gut.
Deshalb gilt es, dieses Gut möglichst gerecht zu teilen. Das ist leider mühsam: Für die Unternehmen ist es umständlich, bei den Arbeitnehmern nicht sonderlich beliebt, weil es Arbeitszeitverkürzung realistisch nur ohne Lohnausgleich zu haben ist. Rot-Grün hat dafür, anders als die französischen Sozialisten, nichts getan. Das ist wohl ihr schlimmstes Versäumnis.
Denn der Weg, den Hartz IV einschlägt, ist ziemlich barbarisch: Er führt in eine Gesellschaft, die sich schroff in Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitslose teilt. In eine Gesellschaft, die sich hartnäckig weigert, Arbeitslosigkeit als Effekt ihrer eigenen Produktivität und ihres Reichtums zu verstehen. Deshalb wird diese Gesellschaft Arbeitslosigkeit letztlich als Charakterdefekt der Arbeitslosen deuten, dem man mit harter Hand begegnen muss. Je mehr Arbeitslose es gibt und je übler es ihnen geht, umso größer wird in der Regel die Angst der Mittelschicht auch dort zu landen.
Diese Furcht speist derzeit erfreulicherweise noch die Anti-Hartz-IV-Proteste – aber das kann schnell ins Gegenteil umschlagen: in Ressentiments gegen die Faulenzer, die sich eine schönen Lenz machen. STEFAN REINECKE
Fotohinweis: STEFAN REINECKE, 45, ist seit 2001 Autor der taz. Zuvor betreute er die Meinungsseite des Berliner Tagesspiegels. FOTO: ROLF ZÖLLNER