: Das Märchen vom Wachstum
Wachstum“ tönt es täglich aus den Medien, wenn Lösungen zu Problemen wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit und Armut diskutiert werden. Aber ist Wachstum überhaupt die Lösung? Was steckt eigentlich wirklich hinter diesem ständigen Zwang zum Wachstum, das angeblich dem Wohl der ganzen Welt dient, obwohl Mensch und Natur immer mehr darunter leiden? Warum bringt das Wachstum nicht mehr Arbeitsplätze, sondern immer mehr Arbeitslose, mehr Lebensangst? Warum nicht „blühende Landschaften“, sondern Naturzerstörung?
Der Wohlstandsforscher Horst Afheldt schreibt darüber: „Der Wachstumspfad des Sozialprodukts/BIP der Bundesrepublik folgt seit 1950 nahezu unverändert derselben Geraden. Lineares Wachstum bedeutet, dass jedes Jahr (etwa) die gleiche Summe zum Sozialprodukt hinzukommt.“ Der Zuwachsbetrag bleibt also gleich. Nur in Prozenten gerechnet nehmen die Wachstumsraten jährlich ab. Trotzdem richtet sich alle Hoffnung auf neues Wachstum. Der Zukunftsforscher und Politikberater Meinhard Miegel erkennt in diesem Hoffen gar ein tiefer liegendes Missverständnis: „Schon der gedankliche Ansatz ist falsch. Arbeit entsteht nicht durch Wachstum, sondern Wachstum durch Arbeit. Das ist zahllose Male festgestellt worden, hat aber im öffentlichen Bewusstsein kaum Spuren hinterlassen.“
Die Arbeit aber ist ins Hintertreffen geraten. „Bis in die Siebzigerjahre stiegen die Nettorealeinkommen aus abhängiger Tätigkeit in der BRD wie auch in den anderen europäischen Industrienationen nicht viel langsamer als das Sozialprodukt“, so Afheldt. „Doch in der Phase der neoliberalen Ordnung seit Ende der Siebzigerjahre zeigen die Kurven eine geradezu explodierende Ungleichheit der Erträge des Wachstums.“ Die Ursache ist eine Kombination aus zwei Faktoren: dem Weltmarktdruck auf die Löhne und der Verschiebung des Anteils am Sozialprodukt – weg von der Arbeit hin zum Kapital.
Um das zu verstehen, sollte man sich klar machen, wofür denn Staat und Wirtschaft überhaupt Geld ausgeben. Es sind nämlich am Ende immer nur zwei Kostenposten, auf die sich alles Handeln zurückführen lässt, das Geld kostet: Personalkosten und Kapitalkosten. Wenn man diese beiden Kostenpunkte volkswirtschaftlich aufsummiert, dann teilt sich auch das ganze Sozialprodukt (= Volkseinkommen) eines Staates nur in zwei Posten: Arbeitserträge und Kapitalerträge. Kapitalerträge aber sind Zinsgewinne. Nach den Zinskosten bleibt also der Rest für die Arbeitserträge. Wenn dieser Restanteil immer kleiner wird, dann gibt es wiederum nur zwei Möglichkeiten: Man zahlt den Arbeitnehmern geringere Löhne und Gehälter und wenn nicht, dann streicht man entsprechend viele Arbeitsplätze. Bisher wurde in Deutschland vor allem das Streichen von Arbeitsplätzen praktiziert. So entstand die viel beklagte Arbeitslosigkeit. Heute geht man dazu über, zusätzlich zu den Entlassungen den verbleibenden Arbeitnehmern weniger zu bezahlen und zusätzliche Arbeitszeit abzuverlangen.
Der Wirtschaftsanalytiker Helmut Creutz hat in seinen Untersuchungen festgestellt, dass die Pro-Kopf-Einkommen der Arbeitnehmer weit hinter den Entwicklungen der Wirtschaftsleistung zurückgeblieben sind. Während die Wirtschaftsleistung von 1991 bis 2001 um 37 Prozent und die Nettolöhne nur um 23 Prozent wachsen konnten, stiegen die Zinsaufwendungen der Banken um 95 Prozent und die Geldvermögen um 100 Prozent, vor allem durch Zins und Zinseszinsen und nicht durch reale Ersparnisse. Selbst die Bundesbank schrieb in den frühen Neunzigerjahren einmal von einer „Selbstalimentation der Geldvermögen“.
Das wirkt sich in der gegenwärtigen Krise besonders hemmend aus. Denn die Ansprüche auf Zinsen gelten unabhängig davon, ob die Wirtschaft gewachsen ist oder nicht. Das heißt: Je geringer das prozentuale Wachstum der Wirtschaft ist, desto dramatischer wirken sich die Folgen der festliegenden und sogar weiter wachsenden Ansprüche des Geldkapitals aus.
Die soziale Sprengkraft dieser Diskrepanz zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen wird durch die Konzentration der Vermögen und Zinseinkommen bei einer Minderheit noch verstärkt: Nach offiziellen Erhebungen verfügt die ärmere Bevölkerungshälfte nur über vier Prozent der Geldvermögen, die besser situierte dagegen über 96 Prozent. Und auch bei dieser reicheren Hälfte konzentriert sich das Vermögen überwiegend bei nur einem Zehntel der Gruppe.
Wenn das Wachstum der Wirtschaft also nicht mit dem Wachstum des Kapitals Schritt hält, müssen die steigenden Kapitalansprüche entweder durch Arbeitslosigkeit oder Lohnsenkung ausgeglichen werden. Das heißt aber auch, dass unter den heutigen Bedingungen mehr Beschäftigung nur durch ein Wirtschaftswachstum zu erreichen wäre, das mindestens so hoch sein müsste wie die exponentiell wachsenden Ansprüche des Kapitals.
„Wir haben nachhaltig über unsere Verhältnisse gelebt“ heißt es vom Bundesfinanzminister, und jetzt müsse also gespart werden wie noch nie seit dem Neubeginn 1948. Dabei stellt er mit seinen Bundeshaushalten gleichzeitig den Beweis dafür bereit, dass der Staat gar nicht sparen kann, sondern die Schuldenspirale und den Geldkreislauf weiter in Gang halten muss, um nicht noch mehr Unternehmen in die Pleite und noch mehr Arbeitnehmer auf die Straße zu schicken. Dafür erfindet der Hans Eichel immer neue Methoden, um die zunehmende Verschuldung zu verstecken. Im Klartext: Immer mehr „Ausgaben“ des Staates sind also wiederum nichts anderes als Zinskosten, ohne dass sie als solche im Etat deklariert werden. Das Ziel eines ausgeglichenen Staatshaushaltes ist also pure Illusion, so lange die Wachstumsspirale aus Zins und Zinseszins nicht abgebremst wird.
Zwischen der Neuverschuldung des Staates und der Zinsentwicklung bestehen also sehr enge Zusammenhänge. Vor allem fällt auf, dass die Summe der in den letzten 30 Jahren gezahlten Zinsen mit der Summe der öffentlichen Neuverschuldung weit gehend identisch ist. Das aber bedeutet nichts anderes als die frappierende Tatsache, dass die ganzen Kreditaufnahmen der öffentlichen Haushalte überhaupt nichts gebracht haben. Denn es waren ja keine realen Einnahmen, die zusätzliche Mittel für Investionen bereitgestellt hätten. Die Zinszahlungen haben nur eine Minderheit von Kapitalbesitzern, die übriges Geld dem Staat leihen konnten, in gleicher Höhe reicher gemacht: Von 1970 bis 2000 um rund 1.900 Milliarden Mark oder 970 Milliarden Euro. Das ist der Löwenanteil an den heutigen Staatsschulden von 1.200 Milliarden Euro, die mit täglich 180 Millionen, monatlich 5,6 Milliarden oder jährlich 67 Milliarden Euro Zinsen bedient werden müssen.
Auch die Zinsleistungen der Unternehmen muss irgend jemand bezahlen: Sie stecken wie Material- und Personalkosten als „Kapitalkosten“ in den Produktpreisen. Rechnet man die Zinskosten in Arbeitszeiten um, dann musste jeder Erwerbstätige 1950 etwa drei Wochen pro Jahr, 1975 sieben Wochen und im Jahr 2000 bereits mehr als ein Vierteljahr nur für Zinsen arbeiten. Natürlich stehen diesen letztlich von den Privathaushalten zu zahlenden Zinslasten entsprechende Zinseinkommen gegenüber. Diese verteilen sich aber nicht analog zur Höhe der Ausgaben, sondern zur Höhe der Zins bringenden Vermögen. Und die sind auffällig ungleich verteilt: Nur 10 Prozent aller Haushalte sind die Gewinner.
So sammelt sich aufgrund der durch Zins und Zinseszins bedingten Vermehrungsmechanismen immer mehr in ohnehin überfüllten Kassen. Für die Wirtschaft nutzbar zu machen sind diese Überschüsse nur, wenn sie erneut über Kredite in den Kreislauf zurückgeführt werden. Damit wachsen die Schulden, die Zinsströme und die Konzentration der Geldvermögen immer weiter. Geldvermögen und Schulden schaukeln sich also gegenseitig hoch. Währenddessen wachsen die Spannungen zwischen Arbeit und Besitz.
Um eine Lösung zu finden, müsste erst einmal der tote Winkel im Denken der Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler und ihrer Gläubigen in Politik, Wirtschaft und Medien ausgeleuchtet werden. Dann würde nämlich sichtbar, dass – wie der Geld- und Zinsexperte Helmut Creutz das sieht – „die Wirtschaft gar nicht mehr so schnell wachsen kann, wie Vermögen und Zinszahlungen zunehmen. Deshalb bleibt nur, die Zinssätze und damit die Wachstumsraten der Geldvermögen und Schulden auf die Wachstumsraten der Wirtschaft abzusenken. Nur so könnte ein weiteres Auseinanderklaffen der Armut-Reichtum-Schere verhindert werden.“ Das Erkennen und Korrigieren des Irrtums vom „Wachstum“ ist bereits ein Wettlauf mit der Zeit.
Vielleicht sollte die Einsicht der zuständigen Wissenschaftler und Politiker eines Tages so weit reichen, dass sie dem Satz von J. F. Kennedy zustimmen: „Wenn eine Gesellschaft den vielen, die arm sind, nicht helfen kann, kann sie auch die wenigen nicht retten, die reich sind.“