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Archiv-Artikel

„Zu weich darf man nicht sein“

Als Witwe eines hingerichteten Widerstandskämpfers des 20. Juli wird Marion Gräfin Yorck von Wartenburg hoch geehrt. Als konservative Richterin wandte sie in den 50er- und 60er-Jahren selbst rigoros Nazi-Recht an: bei der Verfolgung homosexueller Männer

VON ANDREAS PRETZEL

In der bundesrepublikanischen Kultur des politischen Gedenkens hat der Widerstand der Akteure des 20. Juli 1944 einen herausragenden Platz. Eine beträchtliche Anzahl von Forschungs- und Erinnerungsberichten ist erschienen. Die Überlebenden und Angehörigen der Widerstandskämpfer haben für die Anerkennung des achtbaren Widerstands und die Wiederherstellung der Ehre der als Verräter Diffamierten lange kämpfen müssen. Die Ehefrauen der Hingerichteten haben sich zu Wort gemeldet, Interviews gegeben, Biografien veröffentlicht und damit auch das Interesse an ihrem eigenen Leben und Wirken geweckt.

Zu ihnen gehört Marion Gräfin Yorck von Wartenburg, die vor kurzem ihren hundertsten Geburtstag feierte. Sie ist eine der wenigen noch lebenden Angehörigen jener Männer, die Hitler töten und damit dem Nationalsozialismus ein Ende bereiten wollten. Der Kreisauer Kreis um Helmuth Graf von Moltke traf sich in ihrer Zehlendorfer Wohnung. Ihr Ehemann, Peter Graf Yorck von Wartenburg, wurde als Mitverschwörer des Attentats vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Zu ihrer eigenen Rolle im Widerstandskreis äußerte sie später, sie habe bei den Treffen der Männer „eine aktive Mithörerrolle gespielt“. Sie hatte Glück. Sie wurde in Sippenhaft genommen, aber nach drei Monaten Gefängnis in Moabit entlassen.

Doch der Schock über die Ermordung ihres Mannes saß tief. Haft und Verlust haben ihr Leben nachhaltig geprägt. An ihrem Status als Ehefrau von Peter Yorck von Wartenburg hat sie bis heute selbstbewusst festgehalten, den Kontakt zu den anderen Witwen der hingerichteten Widerstandskämpfer aufrechterhalten und den Familiennamen ihres Mannes trotz einer neuen Lebenspartnerschaft beibehalten. Ebenso nachdrücklich hielt sie auch an den konservativ-religiösen Wertvorstellungen ihres Herkunftsmilieus fest. Aus der zurückhaltenden, treu sorgenden Ehefrau, die in Jura promovierte und sich nach der Heirat der Verwaltung der Güter ihres Mannes gewidmet hatte, wurde eine engagierte und emanzipierte Frau. Beharrlich ist sie fortan für die Bewahrung des Erbes der Widerstandskämpfer, für die Anerkennung ihres Mannes und seiner Mitstreiter eingetreten.

Auch die Ablehnung des Liberalismus gehörte dazu, gegen den sich ein Großteil des Kreisauer Kreises in seinen gesellschaftlichen Zukunftsvisionen für die Zeit nach Hitler ausgesprochen hatte. Beides prägte ihre Nachkriegskarriere. Nach dem Ende der NS-Diktatur setzte sie sich zunächst an der Seite von Kommunisten und Sozialdemokraten im Gesamtberliner Magistrat im Hauptausschuss „Opfer des Faschismus“ (OdF) für NS-Verfolgte wie deren Hinterbliebene ein. Sie ging an die Öffentlichkeit und hielt Reden zum Gedenken an die Opfer.

Zugleich begann sie, ihrem Leben eine selbstständige Existenzgrundlage zu verschaffen, indem sie die abgebrochene Juristenlaufbahn wieder aufnahm. Ihr neuer Lebensgefährte Ulrich Biel hatte sie darin bestärkt. Er war 1934 emigriert, hatte am Krieg gegen NS- Deutschland teilgenommen und war dann politischer Berater des amerikanischen Kommandanten Frank L. Howley geworden.

Hilde Benjamin, zu dieser Zeit Leiterin des Hauptjustizamtes, wollte Gräfin Yorck sogar als Volksrichterin nach Potsdam holen. Doch die blieb in ihrer Zehlendorfer Villa, mit der die Erinnerung an den Kreisauer Kreis verbunden war und die in den Nachkriegsjahren zum Treffpunkt von Politikern wie Konrad Adenauer und Ernst Reuter wurde. Wie Hilde Benjamin gelang auch Gräfin Yorck, als einer von wenigen Frauen in der traditionell männlich beherrschten Justiz, eine berufliche Karriere. Dazu bedurfte es Durchsetzungsvermögens. Zudem herrschte Mangel an unbelasteten Juristen. Noch bis weit in die 50er-Jahre hinein bestand ein nicht geringer Teil ihrer Kollegenschaft in Westberlin aus ehemaligen NS-Justizbeamten.

Marion Gräfin Yorck von Wartenburg wurde schon während ihrer Referendarstätigkeit mit einem Richteramt in Zehlendorf beauftragt. 1952 wurde sie Strafrichterin und Vorsitzende der 9. Jugendstrafkammer am Landgericht Berlin. Siebzehn Jahre lang war sie in diesem Amt und erwarb sich den Ruf einer äußerst strengen Richterin. Diesen Ruf verteidigt sie bis heute. Ihre Urteilsfindungen wie auch ihre Prozessführung waren allerdings nicht unumstritten. Angebote der Versetzung zum Kammergericht oder zur Senatsverwaltung für Justiz lehnte sie selbstbewusst ab, auch weil sie ihr Richteramt als gesellschaftliche Einflussnahme begriff. „Bei jedem Urteilsspruch habe ich die Konsequenz bedacht, die dieser Spruch für das öffentliche Leben haben könnte“, erwiderte sie vor einigen Jahren auf die Frage nach der politischen Bedeutung ihrer Berufsausübung und betonte: „Zu weich darf man nicht sein, das ist der falsche Weg.“

Was einer größeren Öffentlichkeit indes unbekannt blieb: Ihrer Strafpraxis fiel ein nicht geringer Teil der bereits in der Nazizeit verfolgten Homosexuellen zum Opfer. Als „Richterin Gnadenlos“ wird sie von den noch heute Lebenden bezeichnet. Viele der Männer, die nach dem unverändert auch in der jungen Bundesrepublik weiter gültigen Paragrafen 175 verurteilt wurden, werden zornig, wenn ihr Name fällt.

Gräfin Yorck verband ihre Tätigkeit als Juristin mit einer rigiden antiliberalen Haltung, die sie offenbar auch als weltanschauliches Erbe des Kreisauer Kreises begriffen wissen wollte. Mit dieser Einstellung fand sie Zuspruch in jener Zeit. Der politisch wie religiös sich behauptende Konservatismus der Adenauer-Ära verstand sich nicht zuletzt auch als sittliche Gegenbehauptung zum Nationalsozialismus. Im Hinblick auf gesellschaftliche Modernisierungstendenzen, auf Demokratisierung und Liberalisierung war dieses Beharren auf einem antiliberalen Konservatismus zweifellos auch ein Rückschritt. Opfer der gesellschaftlichen Restauration war unter anderem die gesellschaftliche Minderheit der Homosexuellen.

Bereits während ihrer Tätigkeit beim Berliner Magistrat im „Hauptamt für die Opfer des Faschismus“ (OdF) war Gräfin Yorck an internen Überprüfungen beteiligt, die dazu führten, dass homosexuellen NS-Verfolgten und KZ-Insassen die Anerkennung als NS-Opfer und damit Lebenshilfe verweigert wurde. Noch 1950 war sie für die OdF-Behörde aktiv und vertrat unter anderem eine Betrugsanzeige gegen einen ehemaligen Ingenieur. Dieser war 1944 nur knapp der Todesstrafe entgangen und hatte angesichts der Nachkriegsgesetzgebung seine Verfolgung als Homosexueller verschwiegen. Damit, so die Position von Gräfin Yorck, hatte er die Behörde getäuscht und quasi zu Unrecht Unterstützung erhalten. Er musste schließlich für acht Monate ins Gefängnis. Während der NS-Zeit hatte er übrigens Kontakt zu Eugen Gerstenmaier, einem Mitverschwörer des Kreisauer Kreises, der in der Nachkriegszeit Bundestagsabgeordneter der CDU war und auf dessen Unterstützung er sich auch weiterhin berief, um rehabilitiert zu werden.

Als Gräfin Yorck 1952 ihre Tätigkeit als Strafrichterin begann, hatte der Bundesgerichtshof gerade die Fortgeltung des NS-Strafrechts gegen Homosexuelle bestätigt. In den 50er-Jahren erreichte die erneute Verfolgung ein erschreckendes Ausmaß, die Strafen wurden wieder höher, bedenkenlos wurden die NS-Akten in Prozessen gegen Männer, die vorbestraft waren, herangezogen, um sie als Wiederholungstäter zu verurteilen.

Während auch Gräfin Yorck in ihrer Strafpraxis Homosexualität mit exemplarisch abschreckenden Strafen zu bekämpfen suchte, avancierte der legendäre Strafverteidiger Dr. Werner Hesse, selbst Opfer der NS-Homosexuellenverfolgung, zum Staranwalt bedrohter Männer in Berlin. Auch er verstand sein Engagement als gesellschaftspolitische Einflussnahme. Er unterstützte Eingaben an den Bundestag zur Abschaffung des Paragrafen 175, lieferte Rechtsgutachten für den Verteidiger, der jene Männer vertrat, die von 1953 bis 1957 vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Fortgeltung des NS-Rechts geklagt hatten, und vertrat homosexuelle NS-Opfer bei ihrem Versuch, die NS-Urteile in den 50er-Jahren aufheben zu lassen. Und nicht zuletzt war Werner Hesse in der Berliner Homosexuellenbewegung in der „Gesellschaft für Reform des Sexualrechts“ aktiv.

Hesse und Yorck wurden zu unversöhnlichen, wenngleich sich vor Gericht mit gegenseitigem Respekt begegnenden Widersachern. Auch politisch trennten sie Welten. Während sich Hesse in der FDP engagierte, fühlte sich Yorck der CDU verbunden, wo sie allerdings in Konkurrenz zu Ernst Lemmer (später CDU-Postminister) geriet, der als Herausgeber des damaligen Berliner Kuriers liberalere Positionen vertrat.

Urteilspraxis und Verhandlungsführung von Gräfin Yorck sorgten nicht selten für Schlagzeilen. Die Allgemeine Gerichtszeitung hielt 1955 beispielsweise ihr Urteil über den Präsidenten des Schwedischen Amateurboxsportverbands wegen eines Verstoßes gegen Paragraf 175 für zweifelhaft und warf der Richterin Voreingenommenheit vor. Sie habe damit auch „Berliner Porzellan“ zerschlagen, titelte das Fachblatt.

Gräfin Yorcks richterliche Tätigkeit an der Strafkammer endete mit ihrer Pensionierung 1969 – just in jenem Jahr, in dem das NS-Strafrecht gegen Homosexuelle reformiert und liberalisiert wurde. Die Strafurteile über die Männer sind jedoch bis heute gültig, auch wenn der Bundestag die Weiterverfolgung Ende 2000 ausdrücklich bedauerte und sich damit von der Strafpraxis der 50er- und 60er-Jahre distanzierte. Für die Bestraften ist das kein Trost. Viele verloren ihren Beruf und die soziale Stellung und müssen heute mit Renten auskommen, auf die nicht einmal die Haftzeiten angerechnet werden. Sie bewahren Marion Gräfin Yorck von Wartenburg in mindestens zwiespältiger Erinnerung.

ANDREAS PRETZEL, geboren 1961, ist Kulturhistoriker und lebt in Berlin. Vor zwei Jahren erschien das von ihm herausgegebene Buch „NS-Opfer unter Vorbehalt. Homosexuelle Männer in Berlin nach 1945“ (Münster 2002, 360 Seiten, 25,90 Euro)