KIRSTEN FUCHS über KLEIDER : Langweilig rumleben und rumlaufen
Ich trug Ski- statt Springerstiefel, wir liebten „Die toten Hosen“ und klauten Klamotten. Dann wurde Ute wieder bieder
Als ich mich mit Ute anfreundete, war sie ein liebes, biederes Mädchen. Inzwischen sind wir nicht mehr befreundet, weil sie wieder bieder ist. Zwischendurch war sie allerdings eine erstklassige Soft-Punkerin und meine beste Freundin. Ich kam zu einer Zeit in die neue Klasse, als ich noch zu jung war, mir Springerstiefel kaufen zu dürfen. Ich trug deshalb Skistiefel. In der neuen Klasse fühlte ich mich, als wäre ich oft sitzengeblieben und müsste jetzt mit diesen Kindern klarkommen. Sie waren alle politisch und sexuell im Tiefschlaf. Die Mädchen waren aber auch keine Augenweiden. Sie waren wie die Mamis von Sekretärinnen. Ute auch, aber sie hatte ein unerwartet großes Mundwerk mit Zahnspange. Ich trug mit Stolz meine erste Lederjacke, und Ute trug eine verspielte weibliche Brille. Sie hatte eine ätzende, zu große Jacke, beige und so dick gepolstert, als wolle sie Hauptsache nicht erfrieren, wenn sie schon scheiße aussah. Eigentlich hätte ihrer Oma klar sein müssen, dass Ute mit 14 da nicht mehr reinwächst. Von den anderen Mädchen ganz zu schweigen.
Als die dann doch anfingen zu pubertieren, knoteten sie sich die gepunkteten Blusen über dem Bauchnabel und klapperten mit Armreifen. Die Achtzigerjahre waren in Hellersdorf angekommen. Ich entdeckte Batikmittel und zum dritten Mal im Leben die Toten Hosen. Eigentlich waren die Toten Hosen eine Band für Kinder, wie die Ärzte, die wir alle im Ferienlager gehört haben. Scheinbar schien aber die Musik dieser Bands niemanden zu animieren, andere Klamotten tragen zu wollen als alles, was Mutti erlaubte. Ich durfte das, weil mein älterer Bruder aussah wie das letzte Lumpenloch, weshalb ich immer noch besser aussah. Außerdem gab es auch sowas wie „heimlich“. Als Ute von diesem „heimlich“ hörte, probierte sie es aus. Sie färbte sich die blonden Haare morgens mit Wasserfarben, die wuschen sich nach der Schule schnell raus und manchmal auch vom Regen. Das Blau lief ihr auf die beige Jacke und die wurde weggeworfen. Neue Brille, Lederjacke.
Ich durfte inzwischen Springerstiefel haben, weil es gemäßigte Formen ohne Stahlkappen gab. Mein Bruder lebte in einem besetzten Haus und ging so, wie er aufwachte, zur Schule, darum konnte ich anziehen, was ich wollte, solange ich zur Schule ging. Ute und ich tobten bei Toten-Hosen-Konzerten rum und waren genau diese „Teenies“ die einen immer stören, wenn sie eine Band anhimmeln und nach Mitternacht viel zu lange aufbleiben wollen. Wir übernachteten ständig beieinander und sprachen von „sturmfreier Bude“, aber guckten nur Fernsehen. Wir gackerten, tranken Radler und verknallten uns hemmungslos in alles, was was Lustiges anhatte. Mein Bruder hatte viele Freunde. Die waren von weitem süß und stanken von nahem.
Dann klauten wir hin und wieder, z. B. Anglerwesten mit tausend Taschen, mit denen wir noch besser klauen konnten. Wir kombinierten wild alle Muster dieser Welt und sagten: „Du kannst doch nicht schwarz zu kariert anziehen. Zieh was geblümtes an!“ Es war spitze! Als wir uns stilistisch irgendwann beruhigten, waren wir trotzdem noch bis zum Abi dick befreundet, dann sahen wir uns seltener, seltener, sehr selten. Es gab SMS-Mitteilungen, in denen stand, dass nach dem Verlust einer großen Liebe jetzt gesoffen werden müsste. Dann waren wir füreinander da.
Als ich Ute das letzte Mal sah, war sie von heute auf morgen eine schöne Durchschnittsfrau geworden, überdreht und lieb, aber bieder. Sie redete über Bürowitzeleien und Männer, die auf ihre enge Hosen ansprachen. Das gönne ich ihr ja auch, jetzt wo sie keine Brille mehr trägt. Ich dachte an ein Tote-Hosen-Lied über ehemalige Freunde, „Wo ist der Funke, der uns einmal verband. Es gibt nichts, was uns trennt, hab ich immer gedacht. Wir ha’m so viel erlebt. Alles so weit weg. All die ganzen Jahre.“ Ich fragte mich nicht, wie sie so langweilig rumlaufen kann, sondern wie sie so langweilig rumleben kann. Ich war zugegebenermaßen auch mal mutiger, bunter und frecher. Aber um Klamotten geht es ja gar nicht.
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