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Archiv-Artikel

Die neuen Schmerzensmänner

Der Throbbing-Gristle-Begründer Genesis P-Orridge baut sich in eine Frau um, seine Lebensgefährtin Jackie Breyer in einen Mann

VON HELMUT HÖGE

Ende der Siebzigerjahre wurde nicht nur die deleuzianische „Wunschmaschine“ heftig diskutiert, es entstand mit der Punkbewegung auch eine „Industrial Music“. Damit kündigte sich insgesamt bereits der Abschied von der industriellen Produktionsgesellschaft an – indem der Rhythmus und der Lärm der Maschinen nun von einem Partypublikum in ihrer Freizeit goutiert wurden. Zur Berühmtheit brachte es dabei die 1975 von dem Arbeitersohn Genesis P-Orridge gegründete englische Band Throbbing Gristle, die aus der Fluxus-Bewegung kam und dann vor allem oberhalb der Schmerzgrenze experimentierte.

Der Westberliner Musiksatiriker Thomas Kapielski war einer von vielen, die sich davon inspirieren ließen: Er konterte mit einer Doppel-LP, bei der eine Platte ein Kreissäge-Blatt war. Seine Konzerte mit dem Musikforscher Frieder Butzmann endeten damit, dass sie einen Kleiderschrank umkippten. Überhaupt wurde es Anfang der Achtziger auf den Bühnen immer gefährlicher, zugleich wurden immer mehr Maschinen auf die Bühne gewuchtet. Zu den Synthesizer-Pionieren zählt der Pyrolator, zu den Schlagwerk-Erfindern die Einstürzende Neubauten.

Gleichzeitig öffneten sich für immer mehr verhinderte Working Class Heroes Musikerkarrieren. In der Sowjetunion hatte man schon einmal – in den Zwanzigern – riesige „Industriekonzerte“ mit Hämmern, Stahlpressen und Sirenen komponiert. Damals war es die Begrüßung des (siegreichen) russischen Proletariats auf der Weltbühne, nunmehr ging es – im Westen – um seine (schmähliche) Verabschiedung: als „Brassed Off“.

Den Gipfel der Industrial Music, wiewohl eher von Begeisterung für Sprengstoffe getragen, bildete die 1978 von Mark Pauline gegründete kalifornische Gruppe Survival Research Lab, die auf ihren Bühnen – die zumeist leere Rollfelder oder Flugzeughallen waren – Maschinen gegen Maschinen stürmen ließen. Und zwar mit allen kriegerischen Schikanen: Motorsägen, Flammenwerfer und Kontaktzünder. Einem der Künstler riss einmal eine Kampfmaschine beim Zusammenbauen die halbe Hand ab. Die Zuschauer mussten einen Sicherheitsabstand wahren. Schließlich verschickten die Kunstterroristen bloß noch Videos von ihren Veranstaltungen, die inzwischen – laut ihren „Webbys“ – zur „most dangerous show on Earth“ gediehen waren. Für den Test ihres neuesten Kunstwerks „Flame Hurricane“ sucht das SRL-Team gerade mal wieder „nahe der San Francisco Bay Area“ ein neues Freigelände. Was Ibiza für die Technofans wurde, ist die Bay-Area inzwischen für die wachsende SRL-Gemeinde. Die SRL-Kunst wurde darüber reines Entertainment.

Ganz anders die Band Throbbing Gristle, die sich erst zur Gruppe Psychic TV wandelte und dann auflöste, während ihr Gründer Genesis P-Orridge sich zu einem cultural engineer fortentwickelte, der – inzwischen in New York lebend – mit seinen Performances, Aktionen und Installationen weiter die Öffentlichkeit schockiert: „If this is art God help us“, schrieb etwa die Londoner Evening News. Andere englische Zeitungen bezeichneten ihn und seine Mitarbeiter als „wreckers of civilisation“ sowie als eine „Bizarre Boutique that sells Violence“. Daneben bespielte er bis heute 200 CDs, piercte seine Hoden durch und durch und verpasste sich Narben. Seine Künstlerfreunde beeilten sich zu versichern: „Genesis P-Orridge steht in der Dada-Tradition, er macht seriöse Kunst und keine Pornografie“, schrieb zum Beispiel William S. Burroughs. Timothy Leary bescheinigte ihm „a tremendous influence“ und dass er „a powerful person in person“ sei. Während Charles Manson sich unsicher war: „you must be a retarded person – or maybe you’re in another universe“.

Kürzlich zeigte Genesis P-Orridge – von den Bild-Pornowächtern wegen Fußball unbemerkt – im Künstlerhaus Bethanien unter dem nur allzu wahren Titel „Painful but Fabulous“ sein neuestes Werk: und das ist er selbst, der sich jetzt Breyer P-Orridge nennt. In den letzten Jahren hat er sich – man möchte sagen: systematisch – mittels Hormonen, Goldkronen, Implantaten und chirurgischen Operationen in eine Frau verwandelt, während seine Frau – Jackie Breyer – sich umgekehrt in einen Mann umbauen lässt. Das lebende Ergebnis ist bemerkenswert (ich habe Genesis P-Orridge jedenfalls nicht wiedererkannt) und durchaus schön anzusehen. Aber darum geht es ihm gar nicht, ebenso wenig um eine Luststeigerung oder um neue Lusterfahrungen nach der Umwandlung, und schon gar nicht um eine Reihe von „Schönheitsoperationen“, mit denen ein eventuell gestörtes Selbstwertgefühl behoben werden soll.

Mit solch künstlicher Identitätskonsolidierung und Identitätspolitik überhaupt hat Genesis P-Orridge nichts zu schaffen, im Gegenteil: Es geht ihm auch bei diesen ganzen schmerzhaften Aktivitäten nach wie vor um nichts anderes als um reine bzw. radikale Kunst, genauer gesagt, um eine „Dematerialization of Identity“. Seine Großfotos und Videos dokumentieren „das Verwischen von geschlechtlichen Grenzen mithilfe der Medizintechnik“. Die Werkreihe nennt sich „Pandrogeny“: Wenn Androgynie das Nichtgeschlechtliche bedeutet, dann ist Pandrogynie das Vielgeschlechtliche.

Im Zusammenhang der körperlichen Annäherung und schließlichen Wiederentfernung durch Geschlechtertausch von Jackie Breyer und Genesis P-Orridge mittels aufeinander folgender chirurgischer und chemischer Eingriffe könnte man vielleicht auch von einer „Cross-Gender-Study“ in progress und in situ sprechen. Das Künstlerhaus meint jedoch, dass die beiden Personen „letztlich zu einem einzigen multigeschlechtlichen Wesen verschmelzen“ (zu siamesischen Zwillingen gar?).

Die Transgender-Forscherin Susanne Schröter merkte zur Umformung einer Frau in einen Mann einmal an, dass eine „vollkommene Geschlechtsumwandlung“ nur von wenigen angestrebt wird, „schon aufgrund der geringen medizinischen Erfolgsaussichten“, weswegen sie in einem „Dauerzustand des ‚in between‘“ verharren. Für Genesis P-Orridge ist es demnach leichter als für Jackie Breyer, radikal zu bleiben.

Zur Ausstellung gehört ein dicker Katalog: „The Lives & Art of Genesis P-Orridge“ (Soft Skull Press, 200 Seiten, 18,50 Euro). An einer Stelle erklärt der Künstler, warum diese vorläufig letzte „Werkreihe“ nur eine konsequente Fortsetzung seines ständigen Bemühens ist, Kunst und Leben zusammenzuführen: Er hieß ursprünglich Neil Megson, 1965 erfand dieser Genesis P-Orridge und beschloss, ihn in der Kunst und Popkultur zu platzieren: „In gewisser Weise ist meine ganze Kunst nur ein Tagebuch von GPO (…) Bis heute bin ich ein Idealist und Utopist geblieben (…) Für mich ist Kunst Religion. Und die erste Eigenschaft Gottes ist es, etwas Neues zu kreieren – etwas, was vorher nicht da war. Unsere erste Phase – mit der Musik – war noch so etwas wie Propaganda, die viele Leute erreichen konnte und es auch tat. (…) Aber inzwischen sind die ganzen cultural media zu einem Business geworden. (…) Deswegen bin ich zur Fine Art zurückgekehrt. (…) Und es geht: Man kann ein kreatives Leben führen.“ Zu fragen bleibt jedoch, ob GPOs romantischer Avantgardismus dabei nicht letztlich im Handwerklichen stecken bleibt, denn „erst mit der Gentechnik beginnt die wahre Kunst, d. h. sind selbstreproduktive Werke möglich,“ wie Vilém Flusser beizeiten bereits zu bedenken gab.