: Die Jagd nach der verbrannten Liebe
Sie verfolgen, bedrohen und tyrannisieren ihre Mitmenschen: So genannte Stalker handeln meist aus enttäuschter Liebe. Erforscht wird das Phänomen der hartnäckigen Belästigung erst seit kurzem. So viel ist mittlerweile jedoch klar: Mit Liebe hat Stalking nichts mehr zu tun. Es geht um Macht über das Opfer
VON HEIDE PLATEN
Die junge Frau war einmal eine Schönheit, schmal, schlank, die langen roten Haare glatt um ein zartes Gesicht. Ihr Verfall dauerte Monate. Tag für Tag, bei Wind und Wetter, saß sie auf der Treppe eines Frankfurter Szenerestaurants, magerte ab, bekam harte Falten um den Mund, verlor alle sozialen Kontakte. Der Kellner hatte sie nach jahrelanger Beziehung verlassen. Sie quittierte den Laufpass mit unübersehbar leidender öffentlicher Präsenz, ein lebender Vorwurf an den Ungetreuen. Der Mann fühlte sich mäßig belästigt, jedoch nicht bedroht. Vor 20 Jahren hatte diese Art der Selbstzerstörung noch keinen Namen. Heute beschäftigt sie unter dem Namen Stalking (heranpirschen, auflauern) eine breite Öffentlichkeit. Seit die unerbetene, dauerhafte Belästigung einen Namen bekommen hat, wird auch ihren Ursachen und Wirkungen nachgespürt.
Stalking-Opfer sind meist Frauen. Und denen ist es nicht fremd, dass Verehrer Abweisung nicht wahrhaben wollen. Galt es doch bei Männern seit Jahrhunderten als ausgemacht, dass eine, die „Nein“ sage, eigentlich „Ja“ meine. Dieser gesellschaftliche Konsens brachte Frauen nicht nur an den Rand des Nervenzusammenbruches, sondern sogar in Lebensgefahr und endete oft tödlich. Wenn frau in diesem Rollenspiel nicht nachgab und nicht, dahinschmelzend vor so viel Hartnäckigkeit, Unterwerfung signalisierte, war sie immer irgendwie selber schuld an ihrem bösen Schicksal. Dutzende Frauen berichteten in den letzten Monaten erstmals öffentlich von ihrem Martyrium.
Aber auch Männer können Opfer werden. Der serbische Bauarbeiter etwa, der, krank von der Arbeit mit Glas- und Steinwolle, die Schuld an seinem Unglück dem Nachbarn über ihm gab – dem mit dem bösen Blick, der alles hat. Er lasse ihn nicht schlafen. Der Mann steigerte sich in seinem Wahn, erst beschimpfte er den Feind, dann beobachtete und verfolgte er ihn, bedrohte ihn am Ende mit dem Messer. Der Betroffene wagte sich kaum aus der Wohnung, lebte mit seiner Familie in ständiger Angst. Zivilrechtliche Mittel griffen nicht. Die Polizei sah keine Gefahr für die Allgemeinheit. Und noch sei „ja nichts passiert“, sagten die Beamten.
Ein teuflischer Tanz
Stalking ist der Sprache der englischen Jagd entlehnt, deren Ziel der Tod des Wildes ist. Stalker aber empfinden sich selbst nicht als Jäger, sondern als Gejagte, denen ein Unrecht geschehen ist, das ihre Taten rechtfertigt. In ihren Augen sind die Opfer die Schuldigen, denen folglich alles Üble zu Recht geschieht. Die Liebe sei, sagen gläubige Optimisten, eine Himmelsmacht. Das irdische Leben mit ihr ist oft ein teuflischer Tanz auf dünnem Seil. Jedem fünften Beziehungsmord geht Stalking voraus. Wann eine Beziehung zur Beziehungstat wird, ist absehbar: Einseitigkeit der Gefühle, Enttäuschung, Verletzung, Frustration, Obsession. Das wissen Scheidungsanwälte und Strafgerichte nur allzu gut. Meist sind es Frauen, die von ihrem Expartner verfolgt, bedroht, getötet werden. Die Hölle haben sie dann schon hinter sich, oft jahrelang.
Statistiken sagen, dass verlassene Partner, abgewiesene Verehrer und hoffnungslos Verliebte 83 Prozent der Täter ausmachen. Nur der Rest von 17 Prozent übt Psychoterror und Gewalt aus Rache für anderweitiges vermeintliches Unrecht. Seit dieses altbekannte Fehlverhalten Stalking heißt, überschlagen sich Politiker aller Parteien, ihm mit neuen Gesetzesinitiativen und Ratgebern juristisch beizukommen (siehe Kasten). Nun sind Politiker zweifelsohne zwar selten zu sehr geliebt, oft aber Opfer gezielter Aggression geworden. Völlig Fremde verfolgen sie: Schüsse auf Wolfgang Schäuble, ein Messerstich in den Hals von Oskar Lafontaine, Ohrfeigen für die Bundeskanzler Kiesinger und Schröder. Die Täter kennen ihre Opfer nicht persönlich. Die Grenzen der Motivation sind fließend: Zorn, allgemeine Enttäuschung, politisch nachvollziehbare Gründe. Triebfeder der meisten Stalker aber bleibt die Liebe. John Lennon wurde von seinem Mörder verehrt.
Fehlgeleitete Libido ist vermutlich älter als die griechischen Tragödien. Sie richtet sich meist auf Bekannte oder Verwandte. Jugendliche Schwärmerei ist literarischer Topos wie Teenagertraum. Doch auch der Starkult der Neuzeit fordert seine Opfer.
Erzwungener Liebestraum
Völlig Fremde verfolgen prominente Sportlerinnen, Schauspielerinnen, Sänger oder Serienstars. Die Teilhabe an deren öffentlich gemachtem Privatleben verwischt die Grenzen. Die Liebhaber leben mit der Fiktion, die Idole seien erreichbar – ein Traum, der durch Zwang Realität werden soll. In einem der jüngsten Fälle klagte Hollywoodstar Catherine Zeta-Jones gegen eine 32-jährige Frau, die sie seit einem Jahr mit Drohanrufen und Briefen belästigt hatte. Die Frau wurde festgenommen, ihr drohen in den USA bis zu 19 Jahre Haft.
Auch die Universitäten haben das Thema entdeckt. Das Hamburger Institut für kriminologische Sozialforschung bot im Frühjahr ein Seminar an, in Mannheim wurde gerade eine repräsentative Studie erarbeitet, die Technische Universität Darmstadt startete eine Umfrage im Internet und untersuchte 500 Fälle. Die weltweit umfassendste Studie erstellte die Universität Amsterdam.
Sie ergab, dass die Täter zu 95 Prozent männlich, die meisten Opfer weiblich sind. 89 Prozent rufen ständig an, 82 Prozent belästigten auch Familie und Freundeskreis, verbreiten Lügen und Gerüchte, tauchen an Wohnung und Arbeitsplatz auf. Der Anteil an körperlicher Bedrohung ist mit 75 Prozent erschreckend hoch. Es folgt Cyberstalking mit Briefen, Mails oder Paketsendungen. Über die Hälfte der Stalker beschädigt Eigentum, bemalt Hauswände. 55 Prozent wurden handgreiflich, laut Professor Jan H. Kamphuis jedoch keine Frauen: „Gewalt angewendet haben in unserer Studie ausschließlich Männer.“ Die meisten waren zuvor mit der betroffenen Frau verheiratet oder hatten eine langjährige Beziehung mit ihr.
Die Studie attestierte 59 Prozent der Opfer klinisch manifeste seelische Störungen: Angstzustände, Schlaflosigkeit, Depressionen, ähnlich den Traumata nach Folter oder Katastrophen. Eine Vergleichsgruppe niederländischer Bankangestellter, deren Filialen überfallen worden waren, wies weniger Symptome auf. Dies sei auf die lange Dauer des Stalking, im Durchschnitt 38 Monate, zurückzuführen. Mit der psychischen Befindlichkeit der Täter, so Kamphuis, habe man sich bisher wenig befasst. Er stellte aber fest, dass diese meist uneinsichtig und schwer therapierbar seien. Der Ärzte-Zeitung sagte er: „Ich würde meinen, die meisten, die andere Menschen über längere Zeit belästigen, obwohl ihnen eindeutig klar gemacht worden ist, dass kein Kontakt gewünscht wird, haben eine gestörte Persönlichkeit.“ Mit Liebe, so Experten schlussendlich, habe Stalking rein gar nichts zu tun. Es gehe um Kontrolle und Macht über das Opfer.