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Archiv-Artikel

Wer hat an der Uhr gedreht?

Wenn die Zeit aus den Fugen gerät: Immer mehr neue Filme lassen die klassisch-lineare Erzählweise hinter sich. Reagiert das Kino damit auf die neuen Möglichkeiten, die DVD und digitale Montage bieten? Von „Vergiss mein nicht“ über „Reconstruction“ bis „Elephant“: Eine aktuelle Spurensuche

Naturwissenschaft und Philosophie haben die Zeit neu definieren geholfen

VON TILMAN BAUMGÄRTEL

Um 10.40 Uhr möchte Will Kane, der Marshall von der Wild-West-Stadt Hadleyville, gerade seine Amy heiraten, als der Bahnhofsvorsteher in die Feier platzt: Mit dem 12-Uhr-Zug wird der Bandit Frank Miller ankommen, um sich an Kane zu rächen. Eine Stunde und 20 Minuten sucht der Marshall nach Unterstützern, um sich Miller entgegenzustellen. Keiner will ihm helfen. Um 12 Uhr trifft Miller ein und macht sich auf die Suche nach Kane. Kurz nach 12 liegen vier Leichen in der Stadt; Will und Amy fahren davon.

So wie in dem Western „High Noon“ erzählte das Kino in seiner klassischen Periode seine Geschichten – im Fall von Fred Zinnemanns Film sogar in Echtzeit: „High Noon“ ist genauso lang wie das erzählte Ereignis.

Eins nach dem anderen – nach dieser Devise gingen die meisten Regisseure üblicherweise vor. Der Film „baut sich ebenso aus Sätzen auf wie der Satz aus Intervallen“, schreibt der russische Revolutionsfilmer Dziga Vertov in einem seiner Manifeste über das Kino, das ein „System von auf einander folgenden Bewegungen“ sei. Daran hat sich bis heute wenig geändert.

Doch in einer Reihe von neueren Filmen ist die Zeit aus den Fugen. „Vergiss mein nicht“ von Michael Gondry oder „Elephant“ von Gus Van Sant, mit Einschränkungen auch „50 erste Dates“ von Peter Segal, „Spider“ von David Cronenberg und „Reconstruction“ von Christoffer Boe haben gemeinsam, dass in ihnen die Zeit aufgehört hat, geradlinig abzulaufen. Sie springt vorwärts und rückwärts, wiederholt sich, kommt auf Vorangegangenes zurück, beginnt immer wieder aufs neue.

Waren es in der Vergangenheit Ausnahmefilme wie Stanley Kubricks „The Killing“ (1956) oder „Letztes Jahr in Marienbad“ (1961) von Alain Robbe-Grillet und Alain Resnais, die sich Freiheiten bei der Darstellung von Zeitabläufen herausnahmen, taucht diese Idee nun in ganz normalen Mainstreamfilmen auf. Wenn man sich die letzten Kinojahre ansieht, fallen einem weitere Beispiele ein: Die Zeit hat sich zu einem Zirkel oder einer Möbiusschleife zusammengeschlossen („Und ewig grüßt das Murmeltier“, „Lost Highway“, „Twelve Monkeys“). Oder sie bewegt sich im Krebsgang hin und her („Pulp Fiction“). Sie läuft rückwärts („Irréversible“), beginnt von vorn („Lola rennt“) oder rast aus Gegenwart und Zukunft auf die Gegenwart zu („Memento“).

Filme wie „Und ewig grüßt das Murmeltier“ oder „Lost Highway“ spielen im Milieu der Medienproduzenten. Dreht sich die Zeit hier um sich selbst, so lässt sich das als Zeichen postmoderner Langeweile begreifen, als Ausdruck des Unbehagens darüber, dass „alles schon mal da gewesen“ ist. In „50 erste Dates“, „Memento“ oder „Spider“ sind es die Folgen von Amnesie oder anderen Geistesstörungen, die im Bewusstsein der Protagonisten den geradlinigen Ablauf der Zeit unterbrechen. Man könnte dieses Kinophänomen daher mit einem unbewussten Wunsch nach Abschalten, als eine Kapitulation vor den auf uns einprasselnden Bildern und Daten interpretieren. Diese Filme wären dann das Pendant zu den Klagen, dass die „innere Festplatte“ voll sei und man keine neuen Information mehr aufnehmen könne.

Die Idee von einer Festplatte im Kopf liefert das Stichwort, um eine andere Lesart dieses Phänomens vorzuschlagen. Vielleicht sind diese Filme das Symptom einer Krise, die das traditionelle Kino in der Konkurrenz mit den neuen, digitalen Medien durchmacht. Denn diese neuen Medien scheinen nicht nur in puncto Erfolg das Kino hinter sich gelassen zu haben. Nein, vor allem stellen sie ihren Nutzern ganz andere Möglichkeiten des Zugangs zu ihren „Inhalten“ zu Verfügung.

Im Kino ist wie bei allen traditionellen, analogen technischen Medien vom Grammophon über das Tonband bis zu Video der Zugriff immer durch eine lineare Logik geprägt. Diese Medien speichern ablaufende Zeit und geben sie anschließend in ihrer ursprünglichen Reihenfolge wieder. Zwar kann, was auf Film, Ton- oder Videoband aufgezeichnet ist, anschließend montiert und umstrukturiert werden. Das Endprodukt läuft jedoch wiederum unerbittlich vom Anfang zum Ende. Die Ausnahme des Vor- oder Zurückspulens (bei Video und Tonband) oder des Scratching (bei Schallplatten) bestätigen diese Regel höchstens; sie sind weder vom Hersteller noch vom Kulturproduzenten vorgesehen. Erst digitale Medien bieten die Möglichkeit, bewegte Bilder nicht mehr am Stück ansehen zu müssen, sondern diese nach eigenem Gusto zu durchwandern.

Marshall McLuhan hat den Buchdruck für die „lineare Kultur“ der Neuzeit verantwortlich gemacht, in der komplexe Vorgänge auf lineare Strukturen reduziert würden, so wie der Buchdruck Sprache auf in Zeilen angeordnete Worte reduziere. Die analogen Medien bis hin zum Film sind dieser Struktur gefolgt – nicht nur technisch, sondern auch inhaltlich: das Kino erzählt seine Geschichte in der Regel von A nach B, nicht umgekehrt, ohne Verästelungen. McLuhan setzte große Hoffnungen auf das Fernsehen, von dem er sich neue, weniger monokausale Methoden, die Welt zu zeigen, versprach. In den 90er-Jahren verbanden sich ähnliche Hoffnungen mit den digitalen Medien. Das Kino aber lief und lief und lief, immer weiter geradeaus.

Rückblende und Jump-Cut haben dieses Prinzip zwar in Frage gestellt, aber nicht außer Kraft gesetzt. Die Rückblende holt die Vergangenheit zurück, bezieht sie aber immer wieder zurück auf die Gegenwart. Godards Jump-Cut stört zwar die Illusion des Zuschauers, einer linear dargestellten Handlung zu folgen. Aber auch er bleibt letztlich so gut wie immer der Linearität treu, die er nur unterbricht, statt sie durcheinander zu würfeln.

Man mag in der Linearität einen Reflex auf die Fortschrittsgläubigkeit der Moderne sehen, auf das große „Vorwärts“, das am Beginn des vergangenen Jahrhunderts stand (nicht umsonst enden die meisten Filme immer noch mit einem Happy End). Dann bedeuteten die Filme, in denen die Zeit nicht mehr so voranschreitet wie im klassischen Kino, einen Bruch mit dem Zukunftsoptimismus.

In dem unangenehm spekulativen „Irréversible“ benutzt Gaspar Noé den freien Umgang mit der Zeit, um von einer Zukunft zu erzählen, in der es nur Gefahr, Gewalt, Zerstörung gibt. Ähnlich wie bei einem Film noir stehen Verbrechen, Verstümmelte, Tote am Beginn des Films, der seine Story anschließend konsequent rückwärts erzählt. Wie eine desorientierte Version von Walter Benjamins „Engel der Geschichte“ kann der Film nur im Blick nach hinten Harmonie und Glück entdecken. „Irreversible“ spult sich darum Szene für Szene zurück zu einem Idyll, in dem alle Protagonisten noch unversehrt sind.

In der letzten Szene sieht man die Hauptdarstellerin Monica Bellucci auf einer grünen Wiese liegen, in deren Mitte ein Wassersprenger Kreise zieht, als würde er die zyklische Zeit messen, die den linearen Zeitvorstellungen, mit denen wir heute leben, vorangegangen ist. Was „Irréversible“ darum fast noch unerträglicher macht als die exzessiven Gewaltszenen, ist sein Kulturpessimismus und seine merkwürdige Mischung aus Nihilismus und Fatalismus, die in seiner im doppelten Sinne rückwärtsgewandte Erzählhaltung ihren adäquaten Ausdruck gefunden hat.

„Elephant“ von Gus Van Sant scheint dagegen immer wieder innezuhalten, bevor er von dem Amoklauf zweier Schüler in einer amerikanischen Highschool erzählt. Indem er von einem Treffen auf den Fluren der Schule zu einer anderer, vorangegangenen Zufallsbegegnung zurückspringt, zeigt er nicht nur die Verbundenheit und das soziale Netzwerk unter den Schülern. Er gibt dem ganzen Geschehen auch eine merkwürdige Irrealität, und anderes als mit diesem prüfenden, die Schlüsselszenen wiederholenden Blick kann man diese entsetzliche Geschichte wohl auch nicht erzählen. In beiden Filmen ist der objektive Lauf der Zeit einer subjektiven Phänomenologie der Wahrnehmung, einer empfundenen Zeit gewichen. Und damit entsprechen diese Filme einer neuen Definition von Zeit, die sich sowohl in der Philosophie wie auch der Naturwissenschaft findet.

Das klassische Kino entsprach durch seinen kinematografischen Zeitfluss einer Maxime der klassischen Physik, nämlich der Definition Newtons, dass die „absolute, wahre, mathematische Zeit [...] aufgrund ihrer eigenen Natur aus sich selbst heraus ohne Beziehung zu etwas Äußerem gleichförmig“ dahinfließt. Die moderne Physik und die moderne Philosophie haben ein anderes Zeitbild: Einstein hat Zeit als etwas Relatives, nicht immer gleichförmig Ablaufendes beschrieben. Der französische Philosoph Gaston Bachelard hat die Zeitdauer als von „Diskontinuität und großzügiger Heterogenität“ geprägt beschrieben.

Freilich ist „Pulp Fiction“ keine Filmversion der Relativitätstheorie. Eher sind die Filme, in denen Zeit nicht mehr nach linearer Logik abläuft, wohl ein Zeichen dafür, dass das jahrelange Sitzen vor Avid-Schnittcomputern bei einigen Regisseuren einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben muss.

Im Gegensatz zur traditionellen Montage, bei der die Filmstreifen am Schneidetisch aneinander gestückelt werden, überträgt man beim non-linear editing das gesamte Filmmaterial auf den Rechner und montiert es in beliebiger Reihenfolge aneinander.

Der Regisseur und der Cutter sehen die verschiedenen Szenen, die sie aneinander fügen wollen, gleichzeitig auf dem Monitor und können andere Abfolgen ausprobieren. Wenn die Aufgabe der Kinomontage zuvor vor allem darin bestand, die Szenen und Zeitabläufe in eine lineare Ordnung zu bringen, dann lässt einen das nichtlineare Schneiden erfahren, wie willkürlich diese Eingriffe in die Filmzeit letztlich sind.

Auch dem Konsumenten bieten sich inzwischen diese Möglichkeiten. Vor einigen Jahren war er noch gezwungen, dem Von-A-nach-B-Abspulen der Videokassette zu folgen. Die DVDs, die meist wie Bücher nach Kapiteln organisiert sind, lassen den User jedoch nach eigenen Vorstellungen auf das Filmmaterial zugreifen und machen ihn so selbst zum Cutter.

Leider sind jene DVDs noch selten, die diese Möglichkeit so ausnutzen die wie DVD von „Memento“: Dort ist eine Version des Films versteckt, die den ganzen Film nicht rückwärts, sondern ganz konventionell von Anfang zum Ende erzählt. Hier triumphiert das lineare Medium Film noch einmal über die nichtlinearen Zugriffsmöglichkeiten der digitalen DVD.