: Schmuggler in den Bergen der Wörter
Braucht Literaturvermittlung Eventcharakter? Überhaupt nicht, beweist das 9. Literaturfestival im Schweizer Kurort Leukerbad. Zwar finden die Lesungen in einem alten Thermalbad, auf einem Gebirgspass oder in der Dalaschlucht statt, doch im Mittelpunkt stehen immer die Texte und die Autoren
VON VERONIKA RALL
„Kultur“: Unter dieser Spalte führt das Infoblättchen des „Leukerbad Tourismus“ gerade mal einen Eintrag – eine kleine Galerie. Gutwillig kann man die Pianisten dazuzählen, die in den Nobelhotels angestrengt Richard Clayderman imitieren. Aber warum auch sollte der kleine Kurort in den Westschweizer Alpen – 1.500 Einwohner, über eine Million Übernachtungen im Jahr – sich als Kulturhochburg auszeichnen? Hier lassen sich hauptsächlich Rheumakranke täglich in eines der acht badewannenwarmen Thermalbäder sinken. Im Winter blüht der Skitourismus, im Sommer kommen die Wanderer.
Kein Wunder, dass sich das Regionalblatt, der Walliser Bote, der keine Kulturseiten und offenbar auch keine KulturredakteurInnen hat, über ein Literaturfestival ziemlich geschmäcklerisch äußert: „Als Außenstehender und nicht übermäßig Literaturinteressierter ist es nur schwer vorstellbar, dass einem eine Lesung überhaupt gefallen könnte. ‚Langweilig‘, denkt man sich.“
Tatsächlich wirken die meisten TeilnehmerInnen des Festivals wie Fremdkörper in der Alpenkulisse. Hier Judith Hermann mit einer Zigarette im Vermeer-Gesicht, dort Ilma Rakusa mit strenger Brille und strengem Pagenkopf, daneben Andrzej Stasiuk im schwarzem T-Shirt. Aber es gibt einen Menschen, über die sich diese Welten verbinden, und das ist Ricco Bilger. In Zürich betreibt er den Bilgerverlag und die Buchhandlung „sec 52“, eine Dependance davon hat er in seinem Heimatort Leukerbad aufgemacht, heute steht seine Mutter hier hinter der Kasse. Mit Lesungen in der Buchhandlung und einer Einladung an eine Hand voll AutorInnen hat das Festival angefangen. Heute ist es eine Veranstaltung mit internationalem Renommee, die intelligent die teils überflüssig gewordene Infrastruktur des Tourismus nutzt: Einen alten Bahnhof aus den Zehnerjahren des letzten Jahrhunderts beispielsweise – die Schmalspurbahn wurde nach dem Ausbau einer Straße abgeschafft. Oder ein Thermalbad aus den Sechzigerjahren, das als Gebäude von außen scheußlich uninteressant aussieht, drinnen aber, als Lesungs- und Projektionsort, zauberhaft wirkt: Das Publikum sitzt im Becken und auf der Galerie, der Beckenrand wird zur Bühne, die schlichte Dekoration – ein paar Blumen und Kerzen – tut den Rest. Wem das nicht Event genug ist, kann durch die atemberaubende Dalaschlucht wandern (die der Bach über tausende von Jahren gerissen hat und in die fleißige Handwerker binnen 45 Tagen ein Gerüst gelegt haben), später lesen Peter Weber und Urs Augstburger Gedichte, auf der Alm gibt’s Wein, Brot und Käse. Oder zur Mitternachtslesung hoch auf den Gemmipass, eine Gondel aus den Fünfzigerjahren zieht eine vollmondbeschienene, senkrechte Felswand hinauf, oben hört man Maultrommelpoesie.
Das Geheimnis von Leukerbad aber liegt darin, dass es eigentlich kein Event ist. Wer es als solches versteht, kapiert nichts. Die Stadt ist klein, die Zahl der Veranstaltungsorte bleibt überschaubar. Man sieht sich in den Cafés und Restaurants. Die meisten AutorInnen lesen mehrmals, man kann sich ein Bild von ihnen und ihren Texten machen. So zum Beispiel von Gilles Rozier. Geboren 1963 in Frankreich, lernt er Hebräisch und Jiddisch, heute ist er Direktor des Hauses für Jiddische Kultur in Paris. Er liest Gedichte in Jiddisch, ein anderes Mal aus seinem neuen Roman „Eine Liebe ohne Widerstand“, er liest auf Französisch, später auf Deutsch. Rozier entwirft Gestalten zwischen Kollaboration und Résistance, er erzählt von einem Ich (es könnte ein Mann oder eine Frau sein) und dessen Liebe zu einem polnischen Juden, Herman. Roziers Roman und seine Lyrik haben nichts Versöhnliches, nichts Erklärendes, nichts Abmilderndes. Sondern eine brutale Direktheit. Warum beten wir, fragt er beispielsweise, damit wir wissen, welche Uhrzeit ist? In die Diskussion (die literarischen Hors-d’oeuvres, wie sie in Leukerbad heißen), geht Rozier gemeinsam mit Marcel Beyer, Jahrgang 1965. Es treffen sich zwei Suchende auf Sprachenspur in die Geschichte ihrer Großeltern. Ob sie nicht eine besondere Verantwortung trügen, fragt der Moderator des Gesprächs, Oliver Fahrni, gerade weil die Sprache heute jenseits des orwellschen Double-Speak angelangt sei: Kontrolle hieße heute Freiheit, Frieden Krieg und so weiter und so fort. Nein, entgegnet Beyer erst noch zögerlich, eigentlich nicht. Dann wird er schärfer: Verantwortung lasse sich nicht delegieren. Auch nicht an die Schriftsteller.
Auch Ricco Bilger delegiert nicht. In Leukerbad ist er Gastgeber, egal ob er AutorInnen zum Raclette (das ist jede Menge geschmolzener Käse) ins Restaurant seiner Familie entführt oder ob er im vornehmsten Hotel am Platz, Les Sources des Alpes, eine Lesung organisiert hat. Fehlt ein Stuhl, holt er ihn selbst, überfällt eine Journalistin in der Dalaschlucht der Schwindel, reicht er seinen Arm. Er kennt jede Autorin, jeden Autor persönlich, hat ihn eingeladen, weiß von einem Briefwechsel mit ihr zu berichten. Zu anderen VerlegerInnen steht er nicht in Konkurrenz, er setzt auf die Solidarität untereinander und lädt Egon Ammann ein. Und der, einst als Lektor bei Suhrkamp angestellt, berichtet von einer Leidenschaft zwischen Portugal und Russland, zwischen Fernando Pessoa und Ossip Mandelstam. Beide hat er („und ich sage jetzt, welcher Verlag das ist“) in einem großen deutschen Verlag nicht publizieren dürfen, später hat er es selbst gemacht.
Es sind keine Touristen, die für drei Tage in die Alpenkulisse von Leukerbad zu Ricco Bilgers Literaturfestival kommen. Es sind Reisende, Schmuggler vielleicht, wie damals im 18. Jahrhundert die „Säumer“, die Tabak und andere Waren über den Gemmipass in die Zentralschweiz brachten. Heute sind es Gedanken, Worte und Bilder, die man mitnimmt. So auch – fast wider Willen – der Rezensent des Walliser Boten: „Sitzt man aber bequem im aufwändig dekorierten alten Bad St. Laurent, oder ‚Lorenzubad‘, wie die Leukerbadner es nennen, ist es sehr einfach, sich in die Gefilde des gesprochenen Wortes fallen zu lassen. Fasziniert lauscht man dann den Gedankengängen der Autoren und fragt sich immer wieder, wie die es wohl schaffen, in den Köpfen ihrer Zuhörer ein solches Feuerwerk an Bildern zu erzeugen.“