: Zehn Tage blaue Jungs am blanken Hans
Die Kieler Woche: Für die einen ist es das größte Volksfest im Norden, für die anderen ist es ein Besäufnis sondergleichen. Da fürchten Taxifahrer um ihre Stoffbezüge und nach 21 Uhr geben auch die Polizisten auf. Eine ernüchternde Reportage
aus Kiel Timm Schröder
Das Elend beginnt am Hauptbahnhof. Im Minutentakt spucken die Züge Menschen aus, die sich auf Biegen und Brechen amüsieren wollen. Die einen haben Eimer mitgebracht, in denen kleine Kornflaschen auf Eis liegen, andere tragen Rucksäcke, bis oben voll mit Bier. Aus der Masse der Besucher sticht eine zehnköpfige Schar heraus, allesamt mit orangenen T-Shirts. „Jägermeister“ steht darauf. Einer von ihnen trägt das Gehäuse eines ausgedienten Fernsehers auf dem Kopf, über dem „Lust-TV“ steht. Willkommen auf der Kieler Woche, dem größten Volksfest Norddeutschlands.
„Noch ist es schön ruhig“, sagt eine Taxifahrerin vor dem Bahnhof. „So ab 22 Uhr wird es kritisch“, sagt sie, „dann prügeln sich die Leute schon mal um die Taxen.“ Ihr Kollege sagt nur, dass er Mitleid habe mit den Fahrern, die Sitze mit Stoffbezügen haben. „Da geht das Erbrochene so schlecht raus.“ Insgesamt aber wollen sich die beiden nicht beschweren, schließlich schaffen sie während der Kieler Woche bis zu 40 Fahrten am Tag. Verwunderlich ist das nicht. Immerhin gut 2,5 Millionen Besucher wurden während der zehn tollen Tage gezählt. Dennoch ist die Taxifahrerin „ganz froh“, dass seit gestern Schluss ist.
Ordentlich unterwegs ist auch Kurt Kühnapfel. Kühnapfel liegt mit seinem Schiff, der Naku, am Hörnkai direkt in der Innenstadt, und fährt Gäste einer großen deutschen Spedition auf der Kieler Förde spazieren. Normalerweise macht er das im Hamburger Hafen, aber während der Kieler Woche ist die Landeshauptstadt sein Heimathafen. Was Kühnapfel eigentlich ganz gut gefällt. Nicht zuletzt wegen des Zauns, den die Stadtverwaltung direkt vor sein Schiff gebaut hat. „Ich möchte nicht wissen, was ohne den hier los wäre“, sagt der Kapitän mit Blick auf die Menschenmassen, die vor seinem Kajütenfenster vorbeiziehen.
Der Zaun aber hält nicht alles ab: Abends holt Kühnapfel die Flaggen rein, die sein knapp 17 Meter langes Ausflugsschiff schmücken. „Die wären sonst morgens weg“, meint er. Von den Bierflaschen, die vor allem nachts über den Zaun fliegen und auf seinem Deck landen, redet Kühnapfel lieber nicht. So etwas passiert wohl, wenn sich um die 200.000 Besucher an einem Abend an den unzähligen Fressbuden, Bierpilzen und Bühnen in der Innenstadt vergnügen. Dreizehnjährige trinken Rum gleich aus der Flasche, während junge Mädchen verzweifelt „Wo seid ihr?“ in ihr Handy schreien. Wer sich kein Bier mitgebracht hat, kauft sich ein kleines Bier für drei Euro oder lässt sich für 30 Euro im „Skyrider“ in einer an elastischen Bändern aufgehängen Stahlkugel 20 Meter in den bedeckten Himmel schießen.
Gleich neben dem „Skyrider“ versucht die Polizei den alkoholgetränken Massen mit „Präventionsarbeit“ beizukommen. Auf die Frage, ob so etwas denn hilft inmitten all der Menschen, die in jedem Schulungsvideo gegen Alkoholmissbrauch sofort die Hauptrolle bekämen, sagt Wolf Schmidt, Präventionsbeauftragter der Polizei Kiel: „Na sicher, die meisten hier wissen wenigstens, wovon wir reden.“ Die Polizei will auch hier ein Zeichen setzen, sagt Wolf, der seit mittags im Dienst ist. Um 21 Uhr aber machen die Polizisten Schluss: „Danach können wir sowieso keinen mehr ansprechen, weil die uns nicht mehr verstehen“.
Solche Probleme kennt auch Martin Saal ganz gut. Saal ist Skipper des Missionskutters „Elida“, der im Auge des Sturms, im gut besuchten Germaniahafen auf dem Ostufer, festgemacht hat. Zwischen den Masten des Kutters, der am Sonnabend auch an der Windjammerparade teilgenommen hat, hängt ein Banner mit der Aufschrift „Gott ist da“. Ein paar Gospelsänger versuchen, mit ihrem Gesang gegen den Sound einer Oasis-Coverband anzukommen, die auf einer nahegelegen Bühne die Abwesenheit jeglichen musikalischen Talents zur Schau stellt. „Ich kann auch bei Krach beten“, sagt Saal, der Gott und die Kieler Woche keinesfalls als Gegensatz empfindet.
„Nachts kommen die Leute und stellen Fragen“, hat der Skipper des Kutters festgestellt. Viele fragen, wo Gott denn sei, was er tut und warum, solche Sachen. „Die suchen den Sinn des Ganzen“, meint Saal, aber erst, wenn all die Bierbuden geschlossen sind, die Bühnen leer und der Trubel vorbei. „Dann kommen die Leute zu uns, weil sie nichts gefunden haben, das sie zufrieden macht.“