: Die Angst des Entertainers
In den USA kommt morgen Michael Moores „Fahrenheit 9/11“ ins Kino. Wird der umstrittene Dokumentarfilm dazu beitragen, dass Bush abgewählt wird? Oder ist er jetzt schon Schnee von gestern? Eine Kritik aus US-amerikanischer Perspektive
VON ROBERT KOEHLER
Noch bevor er in die Kinos kommen wird, ist Michael Moores „Fahrenheit 9/11“ mehr als nur ein Film. Denn dass ein Dokumentation so sorgfältig vermarktet, gefeiert und zugleich so angefeindet wird, ist außergewöhnlich in den USA, wo Non-fiction-Filme von Glück sagen können, wenn sie überhaupt einen Verleih finden.
Nicht einmal Moores letzter Film, „Bowling for Columbine“, wurde in den US-amerikanischen Medien so heftig diskutiert wie der jetzige; keiner war Gegenstand eines solch aggressiven hype. Wobei das Heiße an „Fahrenheit 9/11“ natürlich der Inhalt ist. Schon als Moore ankündigte, dass er die Verbindungen zwischen den Familien Bush und Bin Laden und die wahren Gründe für die US-Invasion im Irak untersuchen wollte, begann die Gerüchteküche zu brodeln. Endlich gäbe es einen Film, der die korrupte Achse des Öls an den Pranger stellte! Vielleicht, so die Spekulationen, würde Moore seine unverwechselbare Technik anwenden und die Objekte seiner Recherchen selber zur Rede stellen – möglicherweise sogar George Bush höchstpersönlich.
Viele von uns verfolgen Moores Arbeit seit Jahren, besonders linke Cinephile mit einem Faible für non-fiction. Die Meinungen über Moores unentwegte PR in eigener Sache gehen dabei weit auseinander. Denn auch wenn er seine Laufbahn mit „Roger & Me“ (1989) als Sprachrohr der Arbeiter in Flint, Michigan, begann, ist er heute ein Mann Manhattans. Seine Verbindungen zu den Mächtigen der Ostküste und zu Hollywood-Insidern zeigten sich nirgendwo deutlicher als bei der Westküstenpremiere von „Fahrenheit 9/11“. Die Anwesenheit der Prominenten drohte die Botschaft des Films in den Hintergrund zu drängen. Ein Bericht der Los Angeles Times übertrieb kaum mit der Behauptung, der Andrang der Stars habe sogar die Golden-Globes-Gala getoppt – wenn auch die Outfits der Gäste zum Heulen gewesen seien.
Wer Moores Filme von Anfang an schaute, erinnert sich an einen erfrischend lauten Regisseur, der dem verbrauchten Stil der Ich-Perspektive im Dokumentarfilm eine neue Wendung verlieh. Entfernt verwandt war diese Perspektive mit dem feministischen Diktum, das Private sei politisch. Doch wurde daraus bei zahllosen Filmemachern nichts weiter als die tröstliche Einsicht, dass politische Inhalte am besten dann zu schlucken seien, wenn sie mit Tagebuchnotizen versüßt würden: „Schaut her, dies ist meine Geschichte, also ist es auch eure!“
Moore machte Schluss mit dieser Verhätschelung des intelligenten Kinopublikums, indem er einen Humor zum Zug kommen ließ, der für die linke amerikanische Filmszene wirklich neu war. Wie Beobachter politischer Filmfestivals der 70er- und 80er-Jahre attestieren können, war die Anzahl wirklich sehenswerter und wirklich witziger linker Filme immer gering. Und wenn es Humor gab, war er – wie in „The Atomic Café“ – bitter oder einfach geschmacklos. Was „Roger & Me“ so einnehmend machte, war nicht nur Moores scharfzüngiger Bericht über die Zerschlagung der Industrie in seiner Heimatstadt Flint, wo General Motors unter der Führung von Roger B. Smith in den 80er-Jahren tausende in die Dauerarbeitslosigkeit schickte. Es war vielmehr der direkte und trotzdem ironische Kommentar, und es war die Chuzpe, die Herrschenden mit den Folgen ihrer Politik zu konfrontieren.
Hierin sah Moore die Kraft des Films – eine Kraft, die der des investigativen Journalismus verwandt ist: Sorge dich um die Bedrängten, bedränge die Umsorgten. In der Geschichte des Kinos gibt es dafür zahlreiche Beispiele: Eisensteins Montage-Hymnen an den Aufstand der Matrosen, Chaplins zarte Märchen über die Verlierer des Industriezeitalters, Jean Rouchs afrikanische Stimmungsbilder, Godards Variationen über die Zerbrechlichkeit der Liebe im Angesicht des Profits oder Harun Farockis Studien über die Ersetzung des Menschen durch die Maschine. Man könnte so weit gehen zu sagen, dass die Bewegung gegen Großunternehmen und gegen die Globalisierung in den USA 1989 mit „Roger & Me“ ihren Anfang nahm; jedenfalls hinterließ Moore mit diesem Film bereits tiefe Spuren in der politischen Landschaft.
Was ihn von anderen linken Filmemachern unterschied – außer seinem Sinn für Humor – war, ganz Hollywood-gemäß, sein mangelndes Interesse am Künstlertum. Eher schien ihm daran gelegen, selbst der Star seiner Filme zu sein. In den Anzeigen für „Roger & Me“ stand Moore ganz selbstverständlich im Mittelpunkt, und heute ist er in allen Werbeauftritten für „Fahrenheit 9/11“ präsent. Seine Taktik, sich selbst genauso zu vermarkten wie seine Filme, hat sich nicht verändert, genauso wenig sein tief verwurzelter Wunsch, mit dem für ihn typischen Populismus politische Veränderungen herbeizuführen.
Doch diese Strategie versagt in „Fahrenheit 9/11“ vollkommen. Moore hat einen Film gemacht, der seine Landsleute aufrütteln will, er betrügt sie aber um die Informationen, die nötig wären, um die destruktive Politik George W. Bushs wirklich zu verstehen. Stattdessen spricht Moore mit den Zuschauern wie ein Vater zu seinem Kind – und er glaubt erstaunlicherweise, dass das, was er in seinem neuen Film berichtet, wirklich neu ist.
Die ersten zehn Minuten von „Fahrenheit“ käuen lediglich wieder, was in Richard Ray Perez’ und Joan Seklars Film „Unprecedented: The 2000 Presidential Election“ schon besser erzählt wurde, nämlich den Skandal um Bushs Einzug ins Weiße Haus. Im nächsten Abschnitt taucht der Film scheinbar in die Details der Verbindungen zwischen der Bush- und der Bin-Laden-Familie ein. Doch Moore bleibt vage. Auf Geschäftsbeziehungen und Abhängigkeiten zwischen Bushs Ölfirmen und Saudi-Arabien, der Heimat Bin Ladens, wird nur angespielt. Der Regisseur hält sich mit seiner Untersuchung merkwürdig zurück, so als ob der Entertainer in ihm Angst hätte, das Publikum mit genaueren Recherchen zu langweilen.
Vielleicht stammt dieser Rückzug daher, dass viele in den letzten Jahren erschienene Bücher und Artikel die Beziehungen zwischen Bush und Bin Laden sehr viel detaillierter und überzeugender dargelegt haben, als Moore es konnte oder wollte, und dass sich der Filmemacher darüber im Klaren ist. Zwar konnte er Craig Unger, den Autor des hochgelobten Buchs „House of Bush, House of Saud“, vor die Kamera bekommen. Aber Moores Arbeit ist kaum ein Ersatz, höchstens nettes Beiwerk, für die riesige Menge an Literatur über den 11. September. Eine Liste der wichtigsten Publikationen umfasst Bücher wie David Corns „The Lies of Gorge Bush“, Kevin Philips’ „American Dynasty“, Noam Chomskys „Hegemony or Survival“, Amy und David Goodmans „The Exception to the Rulers“ und ein neu erschienenes, umstrittenes Buch des Theologen David Ray Griffin, „The New Pearl Harbor“, dessen Fragen zu den Angriffen vom 11. September „Fahrenheit 9/11“ ziemlich brav aussehen lassen. US-Zeitschriften wie The Nation und eine große Zahl von Internetseiten haben über einige der Details, die Moore als brandneue Fakten verkauft, schon vor langer Zeit berichtet.
Cannes-Jurychef Quentin Tarantino bestand darauf, Moore habe die Goldene Palme „für den besten Film“ bekommen. Dabei ist „Fahrenheit 9/11“ ein ziemlich krudes Stück Filmemacherei. Stellenweise wirkt er schlampig gemacht, dann wieder setzt er offensichtlich auf emotionale Manipulation. Am schlimmsten ist eine Montage von glücklich spielenden irakischen Kindern und Bushs Stimme, wie er das Elend der irakischen Bevölkerung beschreibt – als ob die USA drauf und dran wären, ein irakisches Disneyland zu bombardieren. Sogar Moores witzige Kommentare sind verschwunden. Ein neuer Sound hat sie ersetzt, eine ungute Mischung aus Sarkasmus und Pädagogik.
Tarantinos Jury hat anscheinend vergessen, was in der Empörung über Moore ebenfalls übersehen wird: Es gibt einige ältere amerikanische Dokumentarfilme, die vom Vietnamkrieg auf eine Art berichten, die „Fahrenheit 9/11“ verfehlt. Emile De Antonios „In the Year of the Pig“ von 1968 zeigt den Anfang des amerikanischen Engagements in Vietnam, die politische Logik dahinter, die Verrohung der jungen Soldaten, die diesen Kampf kämpfen sollten, und das Gefühl von Absurdität, das lange vor Richard Nixons Invasion in Kambodscha zu spüren war. Peter Davis' „Hearts and Minds“ folgt De Antonio und geht dabei noch mehr auf den militärisch-industriellen – und sexuellen – Komplex ein, der die Amerikaner in den Krieg getrieben hatte.
Beide Filme funktionieren ohne jede Erzählerstimme, ohne jedes offensichtliche Signal, das den Zuschauern vorschreibt, wie sie zu denken haben. Beide vertrauen auf ihre Bilder und die Menschen, die in den Bildern zu sehen sind, um den Kern der Vietnam-Tragödie bloßzulegen. Dagegen hat Moores Stil in „Fahrenheit 9/11“ etwas von einem langatmigen Diavortrag.
Schlechtes Handwerk, schwache Beweise, noch schwächere Recherche – das alles beeinträchtigt „Fahrenheit 9/11“ am Ende vielleicht gar nicht. Politische Gruppierungen wie MoveOn.org planen bereits Unterstützungskampagnen zum morgigen US-Filmstart. Politische Größen wie der ehemalige Gouverneur von New York, Mario Cuomo, fordern die Bürger nicht nur zum eifrigen Kinobesuch auf, sondern verlangen außerdem, dass die Altersgrenze für den Film auf 13 Jahre herabgesetzt wird, damit auch Teenager in den Genuss von „Fahrenheit 9/11“ kommen. Moore hat ausdrücklich betont, dass er den Film in den Vorstädten zeigen will, dort, wo die „swing voters“ wohnen, also diejenigen, die noch zwischen Bush und Kerry schwanken und den Ausgang der Wahlen im Herbst entscheiden könnten.
Als simpel gestrickte Wahlkampf-Allzweckwaffe könnte Moores Film das Zünglein an der Waage sein. Er könnte jedoch auch, wie einige Beobachter bemerkt haben, einen starken backlash gegen Moore und für Bush hervorrufen. Er könnte Schnee von gestern sein, weil die Gräuelszenen, die tagtäglich die Bildschirme überschwemmen, die Zahl der Kriegsgegner vergrößern. Der Film erinnert die Leute nur an das, was sie ohnehin schon wissen. Im schlimmsten Fall gemahnt „Fahrenheit 9/11“ an die alte Weisheit, dass Halbbildung gefährlicher ist als gar keine Bildung. Im besten Fall kann der Film diejenigen wachrütteln, die immer noch nichts über Bushs Beziehungen zu Saudi-Arabien oder seine Lügen über den Irak wissen. Aber so wie er ist, ist der Film einfach nicht gut genug, um die Revolution auszulösen, die wir brauchen.
Nicht mal annähernd.
Robert Koehler ist Filmkritiker, er lebt in Los Angeles und schreibt für Variety, Film Comment, Cinemascope und Cahiers du cinéma. Seinen Text übersetzt hat Ulrike Meitzner. In Deutschland soll „Fahrenheit 9/11“ am 29. Juli starten