: „Die russische Seite muss beginnen zu verhandeln“, sagt Alexander Rahr
Russlands Präsident Putin steht dem Konflikt in Inguschetien und Tschetschenien hilflos gegenüber
taz: Bisher kannten wir nur den Tschetschenien-Konflikt. Jetzt müssen wir wohl das Wort Inguschetien-Konflikt lernen?
Alexander Rahr: Nein. Der Rebellenüberfall auf Inguschetien steht im Zusammenhang mit dem altbekannten Konflikt in der Nachbarrepublik.
Hat der Überfall tschetschenischer Rebellen auf Inguschetien nicht eine andere Qualität als deren frühere Aktionen?
Einerseits sehe ich Parallelen zu dem Überfall des Rebellenführers Schamil Bassajew, der 1999 in Dagestan einfiel, mehrere Dörfer besetzte und einen islamischen Staat ausrief. Andererseits verfolgte der Überfall von vorgestern keine ideologischen Ziele.
Warum dann der Überfall?
Es gibt einen ganz pragmatischen Grund. Die Rebellen haben russische Waffenlager überfallen, weil der Nachschub über Georgien nicht mehr gewährleistet ist. Der neue georgische Präsident Michail Saakaschwili hat mit den tschetschenischen Rebellen gebrochen.
Dann dürfte Inguschetien das neue Rückzugsgebiet der Rebellen werden?
Diese Region ist ohnehin voller tschetschenischer Flüchtlinge. Deshalb können sich Kämpfer dort leicht verstecken. Verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Inguschen und Tschetschenen begünstigen eine solche Entwicklung. Jetzt stehen die Russen vor der Aufgabe, diese Wanderungsbewegung zu unterbinden.
Bislang waren Entführungen die meistgenutzte Kampftechnik der Rebellen. Jetzt sieht es so aus, als ob die Gewalt eskaliert. Schließlich wurden diesmal systematisch Polizisten erschossen.
Ich erkenne da keine Tendenz. Die Erschießungen hängen mit dem Ziel der Aktion zusammen. Die Rebellen haben ja auch einzelne Geiseln genommen, um sich den Rückzug zu erleichtern. Auffällig ist, dass sowohl das Attentat auf den ehemaligen tschetschenischen Präsidenten Achmat Kadyrow vor ein paar Wochen als auch der letzte Überfall an Tagen stattfanden, die große symbolische Bedeutung für die Russen haben. Während des Zweiten Weltkriegs fiel am 22. Juni deutsches Militär in die Sowjetunion ein.
Welche Kräfte stehen hinter dem Überfall?
Der Tschetschenien-Konflikt nährt sich erstens aus dem Unabhängigkeitsstreben bestimmter tschetschenischer Gruppierungen. Zweitens beobachten wir, dass arabische Fundamentalisten diese Gruppierungen zu unterstützen beginnen. Da findet eine allmähliche Wahhabitisierung der tschetschenischen Seite statt. Drittens haben wir es mit schlichter Kriminalität zu tun.
An dieser Kriminalität sind allerdings nicht nur Rebellen beteiligt. Wie erklären Sie das?
In der umkämpften Kaukasus-Region verkaufen russische Generäle Waffen an die Tschetschenen. Internationale Schmugglerringe nutzen das Chaos, um zollfrei Waren zu verschieben. Aus den Ölleitungen, die durch die Region verlaufen, wird Öl illegal abgezapft. Früher haben die Rebellen westliche und russische Geschäftsleute entführt, um Lösegeld zu erpressen. Heute tut die russische Armee es ihnen gleich. Der Krieg hat jegliche staatlichen Strukturen zerstört. Es gibt viele, die einen Nutzen daraus ziehen.
Sie sprechen von einer Wahhabitisierung der tschetschenischen Rebellengruppen. Im Unterschied zu al-Qaida verüben jedoch auch Frauen Selbstmordanschläge.
Dieser Widerspruch lässt sich mit der Tradition der Blutrache erklären. Die tschetschenischen Frauen, die Selbstmordattentate verüben, sind zumeist Witwen getöteter Rebellen. Hier mischen sich verschiedene Traditionen.
Es scheint derzeit so, als ob niemand mehr für Stabilität in der Region sorgen kann?
Mit der Ermordung des von Moskau unterstützten Präsidenten Achmat Kadyrow ist Putins Plan gescheitert, die Befriedung den Tschetschenen zu überlassen. Dem ehemaligen Geistlichen Kadyrow war es gelungen, mit Erpressung, Gewalt und Geldspritzen einen Teil der tschetschenischen Rebellen hinter sich zu sammeln. Der jüngste Überfall zeigt, dass Kadyrows Sohn nicht über den gleichen Einfluss wie sein Vater verfügt. Die Führer der Rebellengruppen fangen offenbar an, wieder eigene Ziele zu verfolgen.
Welche Rolle kann der Exil-Präsident Aslan Maschadow spielen?
Der Westen sieht in ihm eine Art Arafat, der zurzeit von Russland geächtet wird, aber vielleicht wieder zurückkehren könnte. Aber Maschadow sitzt im Ausland. Er ist zu weit weg vom Konflikt, um seinen Einfluss geltend machen zu können. Viele der Rebellenführer, die in ihm eine Autorität sahen, sind inzwischen tot.
Russlands Präsident Putin muss dringend auf den Überfall regieren. Was kann er tun?
Bei seinen letzten öffentlichen Auftritten hinterließ Putin den Eindruck, dass er über die Wurzeln des Konflikts nicht vollständig informiert ist. Nach der Ermordung Kadyrows wunderte er sich öffentlich darüber, dass Aufbaugelder in dunklen Kanälen verschwunden seien.
Gibt es unter diesen Umständen überhaupt eine Lösung für den Konflikt?
Die russische Seite muss bald beginnen, mit jemandem zu verhandeln. Leider gibt es derzeit auf tschetschenischer Seite niemand, mit dem die Russen wollen. INTERVIEW: MATTHIAS BRAUN