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Archiv-Artikel

ANSCHLAG IN INGUSCHETIEN: PUTIN HAT DIE ÜBERSICHT VERLOREN Ungeplante Eskalation

Ausgerechnet dort, wo Moskau seit Jahren das Epizentrum des tschetschenischen und internationalen Terrorismus verortet, im Herzen des Nordkaukasus, haben tschetschenische Rebellen Putin vorgeführt und gezeigt, dass er nicht mehr Herr im Hause ist. Und dies an einem Feiertag, dem 60. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die UdSSR. Schwor Moskau den Terroristen früher Rache, tat es diesmal so, als sei der Vorfall von Nasran nicht weiter der Rede wert.

Bislang hat er den Kaukasuskonflikt kalt berechnend eskalieren lassen. Die jüngsten Ereignisse erinnern denn auch an den Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges: Damals war der tschetschenische Feldkommandeur Schamil Bassajew in die russische Provinz Dagestan einmarschiert. Daraufhin hatte Moskau Grosny den Krieg erklärt. Bassajew aber war nach getaner Arbeit unter dem Begleitschutz des russischen Geheimdienstes unbehelligt nach Tschetschenien zurückgekehrt. Inzwischen vermittelt der Kreml aber den Eindruck, als habe er in der konfliktreichen Region den Überblick verloren. Mit einem inszenierten Krieg ist Putin momentan nicht gedient. Denn im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Tschetschenien muss er ein Interesse daran haben, die Stabilitätspropaganda im In- und Ausland wirkungsvoll zu verkaufen.

Unter seiner Ägide haben sich gleichwohl mehrere Kraftzentren herauskristallisiert, die jeweils eigene Ziele verfolgen. Der Armee etwa liegt nichts an einem Frieden, das ging aus einem geheimen Papier an den Kreml vor zwei Jahren hervor. Die Militärs empfahlen schon damals, Inguschetien mit in den Krieg hineinzuziehen. Daran lässt sich gut verdienen – und weder die eine noch die andere Seite möchte darauf verzichten. Mit Separatismus und Fundamentalismus hat der gestrige Anschlag also nichts zu tun. Auch nicht mit einem gewöhnlichen Krieg, sonst hätten die Rebellen größere Verluste hinnehmen müssen. Moskaus Militärs führen den Oberkommandierenden Putin an der Nase herum.

KLAUS-HELGE DONATH