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Archiv-Artikel

Zunehmende Sichtverhältnisse

Zu viele Radfahrer kostet der tote Winkel von Lastern das Leben. Das muss geändert werden, sind sich alle einig – nur nicht über das Wie

VON FRAUKE HINRICHSEN

Er lässt den Blick auf ganze Schulklassen verschwinden, und er birgt eine tödliche Gefahr: Jährlich kostet der tote Winkel von Lkws in Deutschland ungefähr 150 Fahrradfahrern das Leben – etwa die Hälfte aller Radler, die im Verkehr sterben.

Vergangene Woche erst wurden wieder zwei Kinder in Berlin von einem rechts abbiegenden Lkw überrollt und lebensgefährlich verletzt. Im März starben in Berlin ein neunjähriger Junge und ein 59-jähriger Mann an einem Tag – weil die Lasterfahrer sie in ihren Rückspiegeln gar nicht erst sehen konnten. Nun hat das Verkehrsministerium angekündigt, dass bei der Lösung des Problems der Durchbruch bevorstehe.

„Wir ändern die Verkehrszulassungsordnung“, sagt Felix Stenschke, Pressesprecher im Ministerium von Manfred Stolpe (SPD). „Ab Anfang 2005 schreiben wir ein größeres Sichtfeld für alle Lastkraftwagen ab 3,5 Tonnen vor.“ Das heißt, Lkws müssen mit besseren Spiegeln ausgerüstet werden, die den Fahrern den größten Teil des toten Winkels sichtbar machen. Dass diese Änderung notwendig ist, darüber sind sich alle Beteiligten einig – wie der neuen Vorschrift aber am besten entsprochen wird, darüber herrscht Streit. Konkret geht es um zwei verschiedene Typen von Spiegeln.

Der eine namens „Dobli“ (holländisch für toter Winkel) stammt aus den Niederlanden. Dort sind bereits seit Anfang 2003 per Gesetz größere Sichtfelder vorgeschrieben und der Dobli-Spiegel, 1997 von Wilbert van Waes entwickelt, hat sich durchgesetzt. Er wird unterhalb der Frontscheibe als zusätzlicher, vierter rechter Außenspiegel montiert und kostet 150 Euro.

Der andere ist der bereits jetzt vorhandene Weitwinkelspiegel auf der rechten Seite – ausgestattet mit neu entwickelten stärker gekrümmten Spiegelgläsern. Die werden voraussichtlich in einigen Wochen vom deutschen Spiegelhersteller MEKRA auf den Markt gebracht. Nach eigenen Angaben liegen die Kosten bei 60 Euro pro Spiegel, wobei allerdings auch die Spiegel auf der linken Seite ausgetauscht werden müssten.

Benno Koch, Fahrradbeauftragter des Berliner Senats und Landesvorsitzender des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC), hält den niederländischen Dobli-Spiegel für die beste Lösung: „Er hat sich seit Jahren in den Niederlanden bewährt und lässt so gut wie nichts vom toten Winkel übrig.“ Der Meinung ist auch Martin Keune, Initiator der Initiative „Weg mit dem toten Winkel“. Er kritisiert am Weitwinkelspiegel: „Durch die stärkere Krümmung der Gläser werden die Objekte im Spiegel immer kleiner und Entfernungen schlechter einzuschätzen.“ MEKRA-Vertriebsleiter Bernd Engel verteidigt sein Produkt. Die Objekte im Spiegel würden zwar unrealistischer dargestellt, der Fahrer würde aber trotzdem auf Gefahren aufmerksam.

Das Verkehrsministerium dagegen hat auch etwas am Dobli-Spiegel auszusetzen. Staatssekretärin Iris Gleicke kritisiert, er könne nicht vibrationsfrei befestigt werden und behindere die Sicht nach vorne. Diese Kritik hält Benno Koch für verfehlt: „Sie ist ein Zeichen für mangelnde Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Niederländer haben das Vibrationsproblem schon vor Jahren gelöst.“

Er wirft dem Verkehrsministerium vor, sich nicht genug mit den Niederländern auszutauschen. Dort sei die Zahl der tödlichen Unfälle mit rechts abbiegenden Lkws seit 2001 durch den Dobli-Spiegel schon um 42 Prozent reduziert worden, und das obwohl noch nicht einmal alle Lkws damit ausgestattet sind.

Auch in diesem Punkt hat das Ministerium inzwischen nachgegeben. Bis vor einigen Wochen hatte Gleicke noch erklärt, die Nachrüstung älterer Lkws solle – „soweit technisch“ möglich – auf „freiwilliger Basis“ geschehen. Nicht nur die CDU, auch die Grünen hatten diese Idee zurückgewiesen. „Wie alle Selbstverpflichtungen kann das nicht richtig funktionieren“, waren die Worte von Winfried Hermann (Grüne). Nun wird auch die Nachrüstung der bereits über die Straßen rollenden Fahrzeuge vorgeschrieben werden – wie es in den Niederlanden bereits der Fall ist.

Deutschland und die Niederlande gehen damit über eine ebenfalls kürzlich verabschiedete EU-Richtlinie gegen den toten Winkel hinaus. Sie schreibt ebenfalls größere Sichtfelder für Lkws vor – allerdings erst ab Januar 2007 und dann auch nur für Neufahrzeuge ab 7,5 Tonnen. „Wir werden zusammen mit den Niederländern eine Initiative auf EU-Ebene einbringen, um die Nachrüstungspflicht in der Richtlinie zu ergänzen“, heißt es deswegen aus dem Verkehrsministerium. Für Deutschland sei die Änderung der Verkehrszulassungsordnung bereits ausgearbeitet, nur der Bundesrat müsse noch zustimmen, bevor die neuen Paragraphen in Kraft treten.

Diese Entwicklung erkennt bei aller Kritik und Streit um den besten Spiegel auch Benno Koch (ADFC) an: „Wir sind jetzt schon einen Riesenschritt weitergekommen in Richtung Sicherheit für Fahrradfahrer und Fußgänger.“