: Drei Personen und ein Schienenstrang
Independent zum Gutfühlen: Tom McCarthys Debütfilm „The Station Agent“ kreist um eine kleinwüchsige Figur
Alles, was es zum Thema Kleinwüchsige im Kino zu sagen gibt, hat vor neun Jahren „Living in Oblivion“ von Tom DiCillo gesagt. Es war ein Film über das Filmemachen, und der 1,35 Meter messende Peter Dinklage wurde darin von seinem Regisseur (Steve Buscemi) verdonnert, einer Traumsequenz das skurrile Flair zu verleihen. Er hatte aber keine Lust. So verließ er das Set nach folgendem großen Monolog: „Hast du schon jemals einen Traum gehabt, in dem ein Zwerg vorkam? Nicht mal ich hab Träume, in denen Zwerge vorkommen. Aber wenn ich je Träume erlebe, in denen Zwerge vorkommen, dann sind es dämliche Filme wie dieser. Oho, das muss ein Traum sein, da kommt ein Zwerg drin vor. Das stinkt mir bis hier. Du nimmst dir jetzt deine Traumsequenz und schiebst sie dir in den Arsch!“
Mit „The Station Agent“ hat Dinklage nun seinen eigenen Film bekommen, ganz ohne Traum, doch sauer ist er immer noch. Sauer auf Leute, die ihn anstarren und sich die Schneewittchenwitze nicht verkneifen. Und wohl auch ein bisschen sauer auf das blöde Schicksal, klein zu sein. Er hat eine wahnsinnige Wut in sich, und er trägt sie bis ins hinterste New Jersey, als es dieses Schicksal einmal gut mit ihm meint: Sein verstorbener Chef hat ihm ein Bahnwärterhäuschen in der Wildnis vermacht. Hier, hofft er, gibt es keine Menschen. Noch besser: Er kann in Ruhe seiner Leidenschaft nachgehen. Denn Finbar, wie er nun heißt, beobachtet gern Züge. Sie sind das Einzige, was er mag.
Dann passiert etwas Seltsames. Man hat sich schon gefragt, wie Regisseur Tom McCarthy sein zentrales Dilemma angehen wird. Dass auch er natürlich den guten Dinklage als Gimmick besetzt hat. Dass sich alle Blicke wieder auf den Kleinwüchsigen richten. Die Lösung: In diesem fantastischen Nichtort namens Newfoundland lässt McCarthy seinen Protagonisten auf Menschen treffen, denen das Aussehen völlig egal ist. Weil aber solche Zauberwesen noch viel irrealer sind als Finbar für den Rest der Menschheit, dreht sich der Blick unversehens um. Woher bezieht der redselige Imbissbetreiber Joe (Bobby Cannavale) sein sonniges Gemüt? Kann es sein, dass er seine Freundlichkeitsattacken nicht auf Kleinwüchsige beschränkt, sondern schlicht einsam ist, und das auch noch unfreiwillig? Finbar beschließt, ihn als Störenfried zu behandeln. Im Falle von Olivia (Patricia Clarkson) verfährt er vorsichtshalber ebenso. Sie hat aber auch einen schlechten Einstand, weil sie Finbar mit ihrem riesenhaften SUV fast über den Haufen fährt. Die Ungetüme verstehen sich als Vehikel für Menschen mit geringem Selbstbild, und hier stimmt das sogar. Olivia ist nervös, von ihrem Mann verlassen worden, und sie betrachtet den neuen Nachbarn vielleicht als potenziellen Partner, vielleicht aber auch als Ersatz für ihr verstorbenes Kind.
Als Independent-Film zum Gutfühlen kann „The Station Agent“ den einen oder anderen düsteren Subtext ganz gut vertragen. In seiner heiter-melancholischen Machart erinnert der Sundance-Gewinner an Jim Jarmuschs Drei-Personen-Stücke mit Landschaft: ins Nichts verlaufende Handlungsstränge, Verzicht auf emotionale Ausreißer, stattdessen minimalistisches Understatement und ruhige Beobachtung. Das einprägsamste Bild zeigt Finbar auf seinem täglichen Spaziergang über die Gleise: den Nacken wie stets korrekt ausrasiert, das weiße Hemd notgedrungen hochgekrempelt und die feine Anzughose zu Bermudashorts verkürzt. Er ist ein hübscher Mann, der in Newfoundland mehr finden könnte als in der Zivilisation, etwas Glück und vielleicht sogar Sex, wenn es ihm gelänge, die alten Gleise zu verlassen und die Isolation als Lebensentwurf zu überdenken. Dann sähe er auch ein, dass selbst sein einsames Zughobby mit anderen mehr Spaß macht.
„Es ist seltsam, wie die Leute mich anstarren“, sagt er einmal zu Olivia, „denn eigentlich bin ich ein furchtbar langweiliger Mensch.“ Da mag er Recht haben. Aber weil seine Selbstzweifel und McCarthys Lösungsstrategien allmählich doch etwas universal anmuten, ist es gut, dass der Regisseur in sein Debüt noch eine andere Szene eingebaut hat. Sie ist peinlich, und man will sie nicht haben, aber sie muss sein. Finbar sitzt in einer Bar. Er fühlt sich beobachtet. Irgendwann hält er es nicht mehr aus, wischt die Gläser vom Tresen, stellt sich auf den Barhocker und schreit: „Seht mich an!“ Man muss sich wohl damit abfinden, dass der wütende Peter Dinklage ein Leben lang sich selbst spielen wird. Immer noch besser als eine Traumsequenz. PHILIPP BÜHLER