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Archiv-Artikel

Oradour – das ungesühnte Verbrechen

Heute vor 60 Jahren ermordeten SS-Männer in der französischen Ortschaft Oradour 642 Zivilisten – vom Baby bis zum Greis. Die bundesdeutsche Justiz hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht einen einzigen der Täter vor Gericht gestellt und verurteilt

BERLIN taz ■ Schließlich hat doch noch ein Bundeskanzler Worte der Entschuldigung gefunden. Anlässlich seiner Reise in die Normandie hat sich Gerhard Schröder als erster deutscher Kanzler an die Einwohner Oradour-sur-Glane gewandt und um Verzeihung für das Massaker gebeten, das heute vor 60 Jahren die SS-Division „Das Reich“ dort angerichtet hat. Keine leere Geste für die Menschen in Oradour, auch wenn sie spät, allzu spät kommt.

642 Menschen, Männer, Frauen, Greise, Kinder, Neugeborene, fielen der nazistischen Mordlust zum Opfer. Keine vereinzelte Untat: Auch im nahen Tulle mordete die Waffen-SS auf dem Weg zur Front in der Normandie wehrlose Zivilisten, um Angst und Schrecken unter der Bevölkerung zu verbreiten.

Schröders Entschuldigung bezog sich auf die Mordtat selbst. Doch eine Entschuldigung wäre auch fällig zum Verhalten der deutschen Nachkriegsjustiz. Die hat nichts unversucht gelassen, um Kriegsverbrecher vor Verfolgung zu schützen. Die zunächst in Dortmund angesiedelte Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft für die Verfolgung von NS-Verbrechen wurde von Nazi-Juristen der ersten Stunde geleitet. Was deutsche Kriegsverbrechen anbelangt, wussten sich diese Juristen einig mit dem Kurs Adenauers, Deutschland wieder zu bewaffnen. Der Aufbau der Bundeswehr sollte nicht durch eine konsequente Abrechnung mit den Verbrechen von SS und Wehrmacht in Europa gestört werden.

Sowenig die Morde an Zivilisten in Süd- und Südosteuropa von deutschen Gerichten geahndet wurden, so wenig geschah dies mit den Massakern der SS-Division „Das Reich“ in Frankreich. Im Januar 1953 fand im französischen Bordeaux ein Prozess gegen eine Reihe von Tätern und Helfern des Massakers von Oradour statt, darunter – in Abwesenheit – auch gegen die verantwortlichen Kommandeure mit dem SS-Gruppenführer Heinz Lammerding an der Spitze. Über sie ergingen – in absentia – Todesurteile. Die verurteilten Elsässer, die zur SS-Division zwangseingezogen worden waren, wurden danach rasch amnestiert.

Wenn auch die Auslieferung deutscher Staatsangehöriger an ausländische Gerichte nicht möglich war, hätten doch die während des Prozesses von Bordeaux ermittelten Sachverhalte Grund genug für die deutschen Staatsanwälte sein müssen, jetzt ihrerseits zügig zu ermitteln. Tatsächlich gab es eine Reihe von Ermittlungsverfahren, die jedoch sämtlich nicht zur Anklageerhebung führten. Vielmehr schenkten die Staatsanwälte einer Schutzbehauptung Glauben: SS-Sturmbannführer und Bataillonskommandeur Otto Diekmann trage die alleinige Schuld. Praktischerweise war Diekmann wenige Wochen nach dem Massaker an der Front gefallen.

Zu einem Skandal besonderen Kalibers geriet der Versuch, den SS-Brigadeführer Heinz Lammerding, den Kommandeur der SS-Division „Das Reich“, vor Gericht zu bringen. Lammerding tauchte zunächst unter falschem Namen in der britischen Besatzungszone unter und ging dann, angesichts der französischen Fahndung, nach München, wo die Amerikaner ihre schützende Hand über ihn hielten.

Lammerding war durch persönliche Intervention Heinrich Himmlers zum Divisionskommandeur ernannt worden, nachdem er seine Eignung als „Partisanenbekämpfer“ an der Ostfront reichlich unter Beweis gestellt hatte. Dokumente, die heute im Centre de la Memoire in Oradour zu sehen sind, beweisen Lammerdings persönliche Verantwortung für Massenrepressalien gegen die französische Zivilbevölkerung. Er ist 1971 friedlich in Bad Tölz verstorben, verehrt von den Veteranen von „Das Reich“, die noch im Jahre 1971 erklärten, „dass wir gegenüber allen Anfeindungen und Diffamierungen nicht müde werden, darzulegen, dass der gute Name unserer Division ohne Makel ist“.

Der Hauptsturmführer Otto Kahn, Kommandeur der SS-Kompanie, die den Massenmord ausführte, konnte sich absetzen. Auch er gehörte zu den Hauptangeklagten des Bordeaux-Prozesses. Und auch er scheint vor Jahren friedlich gestorben zu sein.

Der Einzige, der wegen des Massenmords je vor einem deutschen Gericht stand, war Obersturmführer und SS-Mann Heinz Barth. Ihm wurde zum Verhängnis, dass er sich nach dem Krieg in der DDR niederließ, wo ihn die Verfolgungsbehörden zu Beginn der 80er-Jahre aufspürten. Bahrt erhielt „lebenslänglich“, wurde nach der Vereinigung entlassen, bezog eine Zeit lang Kriegsopferrente, die ihm dann, nach Protesten, aberkannt wurde. Die in der Zwischenzeit erfolgten Zahlungen musste er allerdings nicht zurückerstatten.

Keiner der Verantwortlichen des Massakers von Oradour und Tulle hat je vor einem bundesdeutschen Gericht gestanden. Dies ist nach der verspäteten Entschuldigung der zweite Grund für die Verbitterung der Opfer und ihrer Nachkommen. Auch um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist gründliche Aufklärungsarbeit über die deutsche Nachkriegsjustiz geboten. CHRISTIAN SEMLER

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