: „Amerika braucht Heilung“
„Eine Person reicht aus, ein System in eine extreme Richtung zu wenden.“ Ein Gespräch mit Kim Gordon, der Bassistin von Sonic Youth, über die Politik von George W. Bush und über die Ohrenschmerzen des Produzenten ihrer neuen Platte „Sonic Nurse“
INTERVIEW MAX DAX
Braucht es Songtitel wie „Peace Attack“, um gegen den Krieg anzugehen?
Mein Mann Thurston Moore hat den Song geschrieben. Er hat den Text ursprünglich für ein Poesiebuch verfasst, in welchem jeder teilnehmende Autor jeden Tag im März letzten Jahres ein Gedicht geschrieben hat – bis zum Tag des Kriegsbeginns im Irak. Damals haben in den USA eine Menge Leute gegen den Krieg protestiert – aber diese andere Stimme Amerikas ist seinerzeit von den Medien schlichtweg ignoriert worden. Nur das Wort „Peace“ machte die Runde durch die Medien, ohne dass es von den Medien in den richtigen politischen Kontext gesetzt worden wäre. Und wenn Thurston einen Song „Peace Attack“ nennt, dann bezieht sich das eben darauf, dass ein Schlagwort dazu auserkoren wird, stellvertretend für eine Auseinandersetzung und einen Kontext zu stehen.
Und damit entpolitisiert wird?
Kommt auf den Blickwinkel an. Ich bin ja der Meinung, dass jede künstlerische Äußerung immer politisch ist.
Auch das Cover Ihres Albums? Das ist ein Bild von Richard Prince.
Das ist eine Arbeit aus seinem „Nurse Paintings“-Zyklus, die ich im letzten Jahr in New York in einer Ausstellung gesehen habe. Wir kennen uns seit Anfang der Achtziger – aber da hatte ich zum ersten Mal den Eindruck, als ob wir beide zur gleichen Zeit die gleiche Idee gehabt hätten. Platte und Cover drehen sich um die Idee der Heilung. Die Idee, die dem neuen Album von Sonic Youth zugrunde liegt, ist, dass unser Land dringend Hilfe braucht, die Hilfe von einer Krankenschwester, wenn Sie so wollen – Heilung.
Hinzu kommt, dass Jim O’Rourke, unser Produzent, sehr, sehr krank war, als wir das Album aufgenommen haben. Er konnte seinen Kopf kaum bewegen, weil er einen Abszess in seiner Speiseröhre hatte – und entsprechende Schmerzen. Aber er wusste gar nicht, wie schlecht es ihm ging, weil er nie zum Arzt geht. (lacht) Darüber hinaus hatte er eine Mittelohrentzündung, seine Ohren taten furchtbar weh. Ich meine: Er war jeden Tag unserer Musik ausgesetzt, sollte die Tonspuren mischen – und hatte diese furchtbaren Ohrenschmerzen! Das war eine ziemlich seltsame Situation für uns alle.
Wer genau braucht diese „Heilung“? „Das Land“, also „Amerika“ – oder die Menschen?
Damit meinte ich tatsächlich Amerika. Amerika braucht Heilung.
Steht es um Amerika wirklich so schlecht?
Amerika ist im extremsten Sinne in einem schlechten geistigen und spirituellen Zustand. So schlimm hat es seit dem Amtsantritt von Ronald Reagan nicht mehr um Amerika gestanden. Eigentlich geht es nur um die eine einzige Frage: Ob Bush im Amt bleibt oder nicht. Davon hängt es ab, ob sich diese Gesellschaft in einen Mahlstrom begibt – oder nicht.
Ist es wirklich so einfach? Hängt es von einer einzelnen Person ab?
Ja, so würde ich es schon beschreiben wollen. Ich habe früher nicht wirklich daran geglaubt, ich habe immer gedacht, dass es das System sei, das bestimmte Entwicklungen begünstigt – oder nicht. Aber mittlerweile bin ich mir da nicht mehr so sicher. Mittlerweile denke ich sehr wohl, dass es auch in unseren Zeiten einzelne, benennbare Personen sind, die Geschichte schreiben. In gewisser Hinsicht würde ich heute sagen wollen, dass es natürlich zunächst einmal das System ist. Aber dann taucht eine bestimmte Person zur falschen Zeit auf, und die ganze Situation gerät außer Kontrolle.
Das war mit Adolf Hitler so – und das ist heute mit George W. Bush so. Natürlich ist das System so, wie es ist – aber ein Mensch wie George W. Bush ist der Beweis, dass es im Zweifelsfalle nur einer Person bedarf, um ein bestehendes System in eine neue, extreme Richtung zu lenken. Manchmal denke ich sogar, dass es vielleicht gar nicht so schlecht war, dass diese Entwicklungen so sichtbar geworden sind: So kann zumindest jeder sehen, was passiert – und reagieren.
Wenn Sie nicht mit Sonic Youth im Studio sind und politische Statements setzen, dann arbeiten Sie als Kunstjournalistin, Kuratorin und Künstlerin, erst kürzlich haben Sie Ihr Modelabel X-Girl verkauft, nachdem Sie es einige Jahre geleitet haben. Wie fokussieren Sie?
Es ist hart. (lacht) Die Entscheidung, das X-Girl-Label nicht mehr zu leiten, das hat schon einiges an Zeit freigeschaufelt. Meine Partnerin Daisy und ich haben es nach Japan verkauft und endlich einmal ein bisschen Geld verdient, nachdem wir zuletzt ein wenig frustriert von der tagtäglichen Arbeit waren.
Natürlich ist es schwer, sich zu konzentrieren oder von der einen Tätigkeit auf die andere umzuschalten, wenn man so viele verschiedene Arten von Arbeit verfolgt wie ich. Ich meine: Ich bin Mutter, ich habe ein Kind, ich nehme längst nicht alles an, was mir angeboten wird. Ich frage mich immer, wie Thurston seine Sachen auf die Reihe bekommt: Er verfolgt noch mehr Projekte als ich.
Männer denken vielleicht nur mit einer Gehirnhälfte?
Vielleicht fällt es ihm nicht schwer zu fokussieren, weil er jedes seiner Projekte in einem Gesamtzusammenhang sieht, während meine Projekte eher nebeneinander, unabhängig voneinander stehen. Während es ihm leicht fällt, einen Beitrag zu diesem Poesiebuch zu schreiben, fällt es mir immer wieder unglaublich schwer, Songtexte zu schreiben – obwohl ich es jetzt schon über zwanzig Jahre mache.
Was war denn so schwer?
Ach, ich bin einfach immer so unorganisiert. Ich schreibe ja gerne Songtexte. Ich schreibe überhaupt gerne und viel, eigentlich überall, wo ich hinkomme, schreibe ich mir Notizen auf. Manchmal habe ich zwei verschiedene Themen, die mich beschäftigen, von denen ich denke, die sollten beide zusammen in einem Song auftauchen, und die Art, wie die beiden Themen kombiniert werden, das ist dann die spezielle Chemie dieses Songs. Konkret führte das allerdings dazu, dass ich mit einem Male diese Kartons voller Papierstapel hatte, lauter Zettel voller Notizen.
Was machen Sie dann, wenn Sie so einen Karton ausschütten und einen Songtext schreiben müssen?
Ein typischer Tag ohne Zeitdruck sieht bei mir so aus: Ich lese ein bisschen, mache mir Notizen, ich spiele ein wenig auf dem Synthesizer herum, schreibe ein wenig – dann kommt meine Tochter von der Schule.
Wie entstehen denn so Ihre Songs?
Nicht lachen: Als wir dieses Album aufnahmen, habe ich mit Vincent Gallo gejammt. Ich habe mir seine Gitarre gegriffen, darauf gespielt, und sie war ganz anders gestimmt als die Gitarren bei Sonic Youth. Also fragte ich ihn: Was ist das für eine raffinierte Art, eine Gitarre zu stimmen? Und Vincent antwortete: „So ist normalerweise jede Gitarre gestimmt, nach Stimmgabel.“ (lacht) Da bin ich mir wie ein Idiot vorgekommen.
Kürzlich hatten Sie in New York eine Ausstellungseröffnung. Sie haben dort unter anderem Songtextfragmente von Joni Mitchell und Jimmy Page an die Wände der Galerie gesprüht: „I am a lonely painter / I live in a box of paint / I am attracted by the devil / And I am drawn to the ones who ain’t.“
Ja, das stammt von Joni.
Ein anderer Satz lautete: „There is a feeling I get / When I look to the West / And my spirits / Cry for love“.
Das ist natürlich „Stairway To Heaven“. Das Thema der Ausstellung war meine Heimatstadt Los Angeles und die Architektur im Laurel Canyon, denn das ist in meinen Augen einer der glamourösesten Orte in L.A. – eben weil Leute wie Joni Mitchell dort in ihren schönen Villen lebten. Ich habe früher Fotos von diesen schönen, flachen Apartment-Villen in den Canyons gesammelt. Und ich wollte einmal diese Verehrung für Joni Mitchell und Jimmy Page aufarbeiten – daher die Ausstellung. L. A. ist einfach der schönste Ort, den es auf der Erde für mich gibt. Ich kann an diesem Ort auf Häuser gucken und deren Anblick einfach genießen. Und wie immer, wenn man nicht an dem Ort wohnt, den man liebt – man empfindet ihn aus der Distanz als nah, weil er als Bild präsent, lebendig ist. Ich musste das einfach einmal abarbeiten.
Sie gehören zu den Musikern, die immer schon selbstverständlich Kunst, Theorie und Literatur, Musik und Geräusch zu verbinden versucht haben. Sie gehören zu den Pionieren dieser Art von abstrakter Rockmusik, die heutzutage fast wie ein eigenständiges Genre wirkt.
Kann schon sein.
Als Sie 1981 in New York begonnen haben Musik zu machen, da haben Sie auf dem Fundament, das die No-Wave-Szene gelegt hatte, Ihren eigenen Sound aufgebaut, der in der Folge ganze Generationen von Bands beeinflusst hat.
Wir sind natürlich von der No Wave beeinflusst. Aber wir waren schon damals ganz bewusst nicht ganz so nihilistisch wie der Rest der New Yorker Downtown-Szene. Wir waren geradezu programmatisch angetreten, der ganzen Noise mit einem positiven Ansatz zu begegnen. Die No Wave kam aus dem Punkrock, ihre Protagonisten behaupteten: „Wir haben den Rock getötet.“ Und Thurston und ich und Lee, wir haben dagegengehalten, wir sagten: „Nein, habt ihr nicht!“ (lacht) Geräusche zu hören, atonale Strukturen, das gehört zum Alltag heutzutage, ist nichts Besonderes mehr. Wenn wir einen Beitrag dazu geleistet haben sollten, dann wäre ich sehr, sehr stolz darauf.