: Die Angst hat gewonnen
Das neue Zuwanderungsgesetz wird Deutschland weder öffnen noch modernisieren. Versagt haben nicht nur die Grünen, versagt hat auch der liberale Teil der Gesellschaft
Kaum hatten sich Regierung und Opposition am Dienstagabend auf Grundlinien für ein Zuwanderungsgesetz geeinigt, lobte eine Schar von Kommentatoren den Macher, den Kanzler. „Es ist Gerhard Schröders Erfolg. Er hat den gordischen Knoten zerschlagen.“ Verwundert reibt man sich Ohren und Augen. Denn das, was bislang bekannt wurde, hat mit einem modernen Einwanderungsgesetz so viel zu tun wie das derzeitige Berliner Novemberwetter mit dem Frühling.
Aber beginnen wir mit drei guten Nachrichten. Erstens: Für hoch Qualifizierte (Ingenieure und Führungspersonal in Wissenschaft und Forschung) wird der seit 1973 gültige Anwerbestopp aufgehoben. Doch war es für hochkarätige Wissenschaftler, Wirtschaftsmenschen und Sportler bislang auch ohne Zuwanderungsgesetz kein Problem, nach Deutschland einzuwandern. Zweitens: Der Aufenthaltsstatus von Opfern nichtstaatlicher oder geschlechtsspezifischer Verfolgung wird verbessert, so die Ankündigung. Drittens: Ausländer sollen künftig einen Anspruch auf Sprachkurse sowie Einführung in die Rechtsordnung, Kultur und Geschichte Deutschlands haben.
Bevor jedoch allgemeiner Jubel ausbricht, scheint es angebracht, auf den Gesetzentwurf zu warten und das klein Gedruckte aufmerksam zu studieren. Denn bereits mit seinem letzten Gesetzentwurf von 2002 hat Innenminister Otto Schily (SPD) bewiesen, dass einer blumigen Ankündigung ein reaktionärer Text folgen kann. Begehen wir nicht den Fehler des Kommentators einer großen süddeutschen Tageszeitung, der 2002 bereits die Kirchenglocken erklingen lassen wollte, weil er in den damaligen Ankündigungen des Gesetzentwurfs von Otto Schily eine Modernisierung der Gesellschaft zu erblicken glaubte. Es bleibt abzuwarten, was uns das Trio Otto Schily, Günther Beckstein (CSU) und Peter Müller (CDU), das das Gesetz ausformuliert, in ein paar Wochen präsentieren wird.
Nur eines ist gewiss: Die Grünen sind die großen Verlierer des Zuwanderungsgesetzes. Über Jahre hat Otto Schily das migrationspolitische Fachpersonal des Koalitionspartners (Marieluise Beck, Claudia Roth und Volker Beck) gedemütigt, brüskiert und lächerlich gemacht. Zum Dank für ihre Leidensbereitschaft hat der Kanzler den Grünen am Dienstag den politischen Todesstoß versetzt. Während Schily mit Beckstein und Müller große Koalition spielen darf, können die Grünen bereits ein wenig Opposition üben. Schaden kann das nicht. Denn schon seit langem hat die Partei in der Einwanderungspolitik nichts Substanzielles mehr zu bieten. Profillos taumelte die Partei durch die letzten Jahre, unfähig, Impulse zu setzen, neue Themen aufzugreifen oder gar gesellschaftliche Debatten zu organisieren. Rückblickend wirkt das leidenschaftliche Engagement der Integrationsbeauftragten Marieluise Beck für die Kopftuchträgerinnen der Republik wie der willkommene Nebenkriegsschauplatz einer resignierten, ausgebrannten und zumindest in Fragen der Migration unwichtigen Partei.
Schily hat mit dem migrationspolitischen Aus der Grünen eines seiner Lebensziele erreicht. Die Partei ist desavouiert, und einige der von ihm gehassten einstigen grünen Weggefährten sind blamiert. Es ist eine billige Genugtuung und sagt wenig über Politik und viel über die Selbstreferenz dieser Regierung aus. Aber auch das gewohnt nassforsche Auftreten des Elitärs Schily kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht er, sondern der bayerische Innenminister Beckstein seit Monaten das Gesetzgebungsverfahren bestimmt. Daran ändert auch die Intervention des Kanzlers wenig, der seinem angeschlagenen Innenminister zu Hilfe eilen musste. Ebenso wenig Schröders Beteuerung, dass es ein modernes Zuwanderungsrecht geben wird.
Mit Beckstein, so viel ist sicher, wird es ein modernes Zuwanderungsrecht nicht geben. Ebenso wenig einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung von Zuwanderung. Es ist schließlich sein Verdienst, die Zuwanderungsdebatte in den letzten Jahren sukzessive mit Sicherheitsfragen verknüpft zu haben. Wie umfassend Beckstein die Umdeutung der Debatte gelungen ist, verdeutlicht ein kurzer Blick zurück.
Noch vor drei, vier Jahren war mit dem Projekt Zuwanderungsgesetz die Hoffnung auf eine Neupositionierung der Republik verbunden. Deutschland wollte sich damit nicht nur von der alten Lebenslüge verabschieden, es sei kein Einwanderungsland. Das Gesetz sollte auch zur kulturellen Öffnung der Gesellschaft beitragen und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands beim Buhlen der Industrie- und Dienstleistungsländer um innovative, kreative und mehr oder auch weniger qualifizierte Arbeitskräfte steigern. Gleichzeitig sollte das Gesetz den bereits Eingewanderten signalisieren, dass sie von dieser Gesellschaft nach Jahren der Ablehnung endlich an- und aufgenommen werden.
Davon ist heute nur noch am Rande die Rede. Verantwortung dafür tragen nicht allein die erschlafften Grünen. Der Status quo ist auch das Resultat eines schwachen und unentschiedenen liberalen Bürgertums und halbherziger Intellektueller. Ihnen ist es nach dem 11. September 2001 nicht gelungen, die notwendigen Debatten um neue Herausforderungen für die innere Sicherheit und radikalislamistischen Terror von der Debatte um die Gestaltung einer modernen Zuwanderungsgesellschaft zu trennen – und dennoch parallel zu führen.
Der breite gesellschaftliche Konsens zwischen Gewerkschaften, Kirchen, Unternehmerverbänden und anderen Kräften für ein modernes Zuwanderungsgesetz zu Beginn des Jahrzehnts reichte nicht für gesellschaftliche Mehrheiten. Hinter dieser Niederlage, und eine Niederlage ist das zu erwartende Zuwanderungsgesetz, wird auch der Grad der Erschöpfung des liberalen Teils der Gesellschaft deutlich. Die Kraft reicht vielleicht noch für die Parteinahme für bedrohte Minderheiten und eine „Ein Herz für Ausländer“-Kampagne, nicht aber für die Erkenntnis, dass eine moderne Zuwanderungspolitik im ureigenen Interesse liegt und für dieses Interesse auch gegen konservative und reaktionäre Gesellschaftskonzepte gekämpft werden muss.
Nun also liegt die Definitions- und die Gesetzesmacht bei Otto Schily, Peter Müller und Günther Beckstein. Sie sind die Garanten dafür, dass sich mit dem künftigen Zuwanderungsgesetz an der traditionellen Abschottungsrhetorik Deutschlands gegenüber den Fremden wenig ändern wird. Ebenso wenig an der deutschen Phobie, Zuwanderung nur in Verbindung mit Sicherheitsfragen und nicht mit Dynamik und Fortschritt zu denken.
Trotz alledem wird Gerhard Schröder in ein, zwei Monaten, wenn das Beckstein-Gesetz vorliegen wird, für seine Durchsetzungsfähigkeit und Reformbereitschaft gelobt werden. So bleibt nur noch ein Verweis auf die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich: Den Deutschen scheine es zu genügen, am Nachmittag ihren Kaffee und Kuchen auf dem Tisch zu haben, meinte sie vor ein paar Wochen in einem Interview. EBERHARD SEIDEL