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Archiv-Artikel

Die Beichte als Sucht

Der Popliterat Benjamin von Stuckrad-Barre hat öffentlich seinen exzessiven Drogenkonsum gestanden. Kann es sein, dass sich hier eine weit zerstörerischere Sucht als die nach Kokain andeutet?

VON ARNO FRANK

Er wusste, dass unter der Wirkung des Kokains die zusammengerollten Gedanken sich öffnen, sich entfalten, sich ausbreiten, wie trockene Teeblätter unter kochendem Wasser. Er schnupfte. Schrieb. (Pitigrilli, „Kokain“)

Pünktlich zu dessen neuem Buch („Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft. Remix 2“) vorveröffentlichte der Spiegel am Sonntag ein dreiseitiges Interview mit dem Autor Benjamin von Stuckrad-Barre. Leider wurde in dem Gespräch nicht etwa über die Qualitäten seiner fast fünfhundertseitigen Textsammlung, sondern meistenteils „über seinen Absturz in die Drogensucht“ geredet. Udo Lindenberg, las man, habe ihn gerettet. Diese „Flucht in die Krankheit (Stuckrad-Barre) war anderntags allen Nachrichtenagenturen und Boulevardzeitungen der Kolportage wert: „Der 29-jährige Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre war drogenabhängig.“

Ach was.

„Der 29-jährige Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre war keineswegs drogenabhängig“, das wäre vielleicht eine berichtenswerte Neuigkeit gewesen, vergleichbar mit „Keith Richards war niemals heroinabhängig“. Eine Nachricht allerdings, die den Gesetzen der medialen Erregungsproduktion widersprechen würde. Denn das Bekenntnis zur Abweichung hat in der Kulturindustrie Konjunktur. So sehr, dass heute kaum ein Comeback ohne Drogenbeichte als Turbolader auskommt. Es wird kein Zufall sein, dass der Spiegel auf denselben Seiten Jörg Böckems „Leben als Journalist und Junkie“ bewirbt.

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung war Stuckrad-Barre in Anlehnung an eine rabiate Romanfigur von Bret Easton Ellis bereits als „German Psycho“ diskreditiert worden; was nur insofern ungerecht ist, als Stuckrad-Barre seine Groupies keineswegs mit dem Bolzenschussgerät auf dem Fußboden festtackert, um sie anschließend hungrigen Ratten zum Fraß vorzuwerfen. Eine dekadente Langeweile an der Welt aber darf man ihm seit „Tristesse Royale“ durchaus attestieren.

Zuletzt bot er selbst mit einem herrlich irrlichternden Text in der Süddeutschen Zeitung einen Einblick in seine privaten Katastrophen: „Freundin weg, Berliner Wohnung im Arsch, mit der Gesundheit schlimmen Schindluder treibend, Manuskripte in der Tonne, neue Telefonnummer, die ich selbst ständig vergaß […] Eine Chance? Keine Chance.“ Nicht mal Hellmuth Karasek, las man, mochte ihn retten. „Man beginnt die überflüssigen Ausgaben zu unterdrücken“, beschreibt der italienische Schriftsteller Pitigrilli die Auswirkungen der Sucht in seinem Klassiker zum Thema, „alsdann die notwendigen, man tritt seine Wohnung ab, um ein möbliertes Zimmer zu mieten, man gibt auch dies ab gegen eine Dachstube.“ Also alles nichts Neues.

Keine Chance? Der ordinäre arbeitslose Alkoholiker wäre vermutlich happy, wenn er sich erstens Kokain überhaupt leisten, zweitens professionelle Therapien und drittens die gediegensten Medien der Republik als Beichtstuhl für seine Luxusproblemchen nutzen könnte. Das ist durchaus eine Chance, die ein so intelligenter Öffentlichkeitsarbeiter wie Stuckrad-Barre zu ergreifen versteht. Die arme Sau galoppiert freiwillig durchs Dorf, bevor sie getrieben wird. Du kannst auch Vorwärtsverteidigung dazu sagen.

Aber bedarf es überhaupt der Verteidigung? Gegen wen? Ist denn das angebliche Bekenntnis nicht eher ein eifriges Fingerschnippen nach Aufmerksamkeit? Und kleidet die Sucht denn den Popliteraten nicht noch mehr als sein seidenes Einstecktuch? Okay, andere wagen den knallharten Entzug und ziehen aus therapeutischen Gründen nach Bangkok, weil dort auf Kokainkonsum die Todesstrafe steht.

Aber wie cool ist eigentlich ein Udo Lindenberg? Wie authentisch ist eigentlich ein „Absturz“, wenn ihn der Abstürzende überlebt hat? Kann der Kranke seine als Krankheit erkannte Sucht irgendwann künstlerisch fruchtbar machen? Oder war am Ende die Krankheit schon die eigentliche Essenz seiner Kunst? Gilt das für Gottfried Benn? Für Reiner Werner Fassbinder? Warum dreht selbst ein so talentierter Medienjongleur wie Benjamin von Stuckrad-Barre aus freien Stücken wieder am medialen Schwungrad, das er zuvor eloquent für seine privaten Probleme verantwortlich gemacht hat? Kann es sein, dass sich hier eine weit zerstörerischere Sucht als die nach Kokain andeutet?

Und wie pervers ist eigentlich die Logik, nach der sich solche Fragen förmlich aufdrängen?

Vielleicht sollte man darüber einmal einen Roman schreiben.