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Archiv-Artikel

Der große Grenzverkehr

Die erweiterte EU braucht möglichst schnell ein einheitliches Schienennetz. Nur so wird sie die Klimaziele erreichen – und zudem die Spaltung Europas praktisch überwinden

Ausgerechnet die USA zeigen, wie es geht: Dort werden über 60 Prozent der Güter mit der Bahn transportiert

Mit der Erweiterung der Europäischen Union hat Deutschland seine Randlage im Osten verloren und wird noch mehr als heute zum Transitland. Ob der dramatisch ansteigende Verkehr bewältigt wird, ohne dass Deutschland in Stau und Abgasen erstickt, liegt vor allem an der verkehrspolitischen Weichenstellung.

In ihrem „Weißbuch“ fordert die EU zwar die Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene. In den Erweiterungsvorbereitungen spielte diese Absicht aber keine Rolle. Obwohl ein Jahrzehnt über den Beitritt verhandelt wurde, hat die EU-Kommission erst Anfang 2003 das Defizit erkannt und unter Vorsitz des ehemaligen Verkehrskommissars Karel van Miert eine hochrangige Expertengruppe eingesetzt, die das bisherige transeuropäische Verkehrsnetz überarbeiten sollte. Das war nötig, denn verkehrspolitisch ist der Eiserne Vorhang noch vorhanden. Fährt man heute mit der Eisenbahn von Berlin in die estnische Hauptstadt Tallínn, benötigt man für die 1.700 Kilometer insgesamt 60 Stunden – 1935 brauchten die Dampflokomotiven nur 27.

Das Ergebnis der Van-Miert-Kommission ist jedoch eine einzige Enttäuschung. Nationale Egoismen, ökologisches Desinteresse und vielfach auch der Blick durch die Windschutzscheibe dominieren. So hält Italien „seine“ Autobahn zwischen Sizilien und dem Festland für vordringlich, Dänemark „seine“ Brücke über den Fehmarn-Belt. Und bei uns träumen Edmund Stoiber und Manfred Stolpe vom unsinnigen Metrorapid. Den können sie zwar nicht bezahlen, aber sie hoffen auf einen Goldregen aus Brüssel. Das wird nicht funktionieren.

Wir wissen alle: Erfreulicherweise werden in den nächsten Jahren viele Menschen in Mittel- und Osteuropa reisen wollen. Der Handel wird sich mit Sicherheit vervielfachen. Ginge der Güter- und Personenverkehr nur über die Straßen, würde das den Transitländern – allen voran Deutschland – die Luft zum Atmen nehmen. Allein mit Polen wird ein Anstieg des Güterverkehrs um 300 Prozent prognostiziert. Deshalb brauchen wir ein System, das die Gütertransporte bewältigt, schnelles Reisen ermöglicht und darüber hinaus auch noch die Begegnung der Menschen im „kleinen Grenzverkehr“ fördert. Dazu passt der Transrapid Berlin–Moskau – von Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und Peter Gauweiler (CSU) ins Spiel gebracht – überhaupt nicht.

In dem Van-Miert-Bericht werden insgesamt 42 Projekte für Transeuropäische Verkehrsnetze aufgelistet, die bis 2020 Investitionen in Höhe von 220 Milliarden Euro erfordern. Das reinste Wunschkonzert, das uns aus den unseligen und völlig unterfinanzierten Bundesverkehrsplänen vergangener Zeiten sehr wohl vertraut ist.

Dabei hätte man nur die deutschen Erfahrungen berücksichtigen müssen. Kurz nach dem Mauerfall hatte die Bundesregierung die „älteren“ Kollegen eingeladen, die sich noch an die Verkehrsströme der Zeit vor dem Fall der Mauer und vor dem Krieg erinnern konnten. Auch aufgrund deren Einschätzungen wurden die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit erarbeitet. Nun kann man über das eine oder andere Projekt gewiss streiten. Erinnert sei nur an die Tunnelvariante der Eisenbahn durch den Thüringer Wald oder an das Projekt 17, die Wasserautobahn Berlin–Hannover.

Aber die Grundidee war richtig: Mit oberster Priorität – vor allen anderen Maßnahmen, die möglicherweise auch wichtig sind – zunächst die deutsch-deutschen Projekte zu realisieren, damit zusammenwachsen konnte, was zusammengehört.

Bei van Miert gibt es keine vergleichbaren Prioritäten und auch kein Finanzierungskonzept. Wenn Europa zusammenwachsen will, müssen jedoch die Verkehrswege in die mittel- und osteuropäischen Beitrittsstaaten oberste Priorität bekommen.

Vor allem die von Ostdeutschland ausgehenden Eisenbahnstrecken müssen unverzüglich ausgebaut und saniert werden: Die Stettiner Bahn in die polnische Hafenstadt Stettin, die Ostbahn über Kiez–Küstrin, Danzig, Bromberg in die baltischen Staaten, die Frankfurter Bahn nach Warschau, die Görlitzer Bahn nach Breslau und Krakau und die Dresdener Bahn nach Prag, Budapest, Bratislava und Ljubljana. Mit diesen fünf Eisenbahnstrecken wären alle mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer mit der alten EU verbunden.

Natürlich sind auch die Verbindungen von Stuttgart über Nürnberg nach Prag oder die von München über Wien nach Budapest von europäischer Bedeutung – nicht zuletzt, weil diese Eisenbahnstrecken mit denen der westeuropäischen Nachbarländer verknüpft sind.

Es ist notwendig, in Europa ein Schienennetz zu knüpfen von Paris nach Warschau, von Lissabon nach Helsinki, von London nach Athen – auch aus ökologischen Gründen. Denn der Verkehr ist mit einem Anteil von 20 Prozent an den Gesamtemissionen der zweitgrößte Verursacher für Treibhausgase. Im Kioto-Abkommen hat sich die EU verpflichtet, bis 2012 den CO2-Ausstoß um 8 Prozent zu senken. Nur mit dem Ausbau des Bahnnetzes wird das gelingen.

Unabhängig davon müssen noch andere Aufgaben angepackt werden. In der EU existieren nun 15 Signalsysteme, 5 Stromspannungen und 3 unterschiedliche Spurweiten. Den überall gültigen europäischen Führerschein gibt es nur für die Straße. Bei der Schiene gibt es an den Ländergrenzen jeweils auch einen Fahrerwechsel.

Von Berlin in die estnische Hauptstadt Tallínn benötigt man 60 Stunden – 1935 waren es nur 27

Kein Wunder, dass der Schienengüterverkehr nur einen kleinen Prozentsatz ausmacht. Mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 13 km/h ist er dem Lkw-Transport hoffnungslos unterlegen. Dass es auch anders geht, beweisen ausgerechnet die USA. Dort liegt der Anteil des Schienengüterverkehrs bei über 60 Prozent.

Die Probleme mit unterschiedlichen Spurweiten lassen sich überwinden. So hat Spanien seine erste Hochgeschwindigkeitsstrecke Madrid–Sevilla in der europäischen Normalspur gebaut. Das gilt ebenfalls für die geplante Strecke Madrid–Barcelona, die mit der TGV-Strecke nach Paris verbunden werden soll. Auch das Ergebnis der gemeinsamen deutsch-französischen Kabinettssitzung bringt die europäische Einigung voran: Die Lücken der Hochgeschwindigkeitsstrecke Paris–Straßburg–Stuttgart–Frankfurt/Main sollen geschlossen werden, und auf ihr soll sowohl der ICE als auch der TGV fahren. Ein neues System wie der Transrapid wäre – so sieht es jedenfalls das Europäische Parlament – ein richtiger Spaltpilz. Auch deshalb ist der Transrapid die falsche Antwort auf das zusammenwachsende Europa.

Eine gute Verkehrsinfrastruktur ist eine wichtige Voraussetzung, um die Spaltung Europas endgültig zu überwinden. Nur mit vielen grenzüberschreitenden Begegnungen wird es möglich sein, dass der Verständigungsprozess mit den mittel-und osteuropäischen Nachbarn so erfolgreich gelingt wie nach dem Krieg mit Frankreich.

MICHAEL CRAMER