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Archiv-Artikel

Sido mit den Spritzenhänden

„Wer erst ab jetzt deutschen Rap hört, hat nichts verpasst“: Mit „Maske“ ist der Berliner Rapper Sido als erster Independent-Künstler auf Platz 3 der deutschen Albumcharts gelandet. Bei seinen Auftritten reißen sich die Mädchen reihenweise die T-Shirts vom Leib, ein Indizierungsverfahren läuft

„Steig ein, zieh die weiße Line, die Party geht auf mich, behalt den Schein“ –Sido: „Steig ein“

VONCORNELIUS TITTEL

Die Frage ist gut, die Antwort besser. Vor zwei Tagen habe er mit seiner Cousine geschlafen, erzählt der 17-jährige Anrufer mit ernster Stimme. Sie sei 15, und beide hätten es sehr schön gefunden. Er habe wirklich das Gefühl, verliebt zu sein, und wolle es nun wieder tun, nur wisse er nicht, ob es moralisch verwerflich sei, Sex mit seiner Cousine zu haben. Der Mann mit der silbernen Maske, der gerade noch an einer MTV-Moderatorin herumgenestelt hat, holt kurz Luft und setzt – so viel kann man trotz Maske erkennen – ein sehr breites, unrasiertes Grinsen auf. Einen Griff in den Schritt später steht sie im Raum, die Gegenfrage, die so niemand erwartet hätte. „Ist sie dick?“, will er wissen. „Ich meine die Cousine, ist sie dick?“ Der Junge am Telefon verneint. Im Gegenteil, schlank sei sie. „Gut“,antwortet der Mann mit der Maske, den seine Fans als Sido kennen „es ist nämlich so: Man fickt nicht mit seinen dicken Cousinen.“

Auch wenn Sido, dem vor Lachen über seine pointierte Lebensberatung fast die Maske vom Gesicht fällt, ein festes Wertesystem nicht abgesprochen werden kann: Die Evangelische Landeskirche Brandenburg wird anderes im Sinn gehabt haben, als sie sich positivere Vorbilder für die verunsicherte Jugend wünschte. Doch TRL, die nachmittägliche MTV-Wünsch-dir-was-Show, ist kein Ethikrat. Die Zuschauer allein entscheiden, welchen Star und welches Video sie sehen wollen. Und sie alle wollen Sido. Zum vierten oder fünften Mal innerhalb weniger Tage ist er zu Gast. Und während sich die Moderatorin noch die Tränen aus den Augen wischt, kündigt der Star der Stunde einmal mehr sein eigenes Video an: „Mein Block“ – seine Hymne an das Märkische Viertel, eine Hochhausgegend im Norden Berlins.

Und da steht er dann, zwischen deutschen Pitbullhaltern und türkischen Freunden, vor der grauen Fassade seines Hauses. Die silberne Maske – halb Totenkopf, halb Mikrofon – funkelt im Dunkeln, während Sido über Junkies, obskure Sexualpraktiken und seine „übergeilen“ Nachbarn rappt. Drogen, Freunde und Sex, alles hat er, alles kriegt er in seinem Block. Auch deshalb gilt für ihn: „Meine Welt reicht vom 1. bis zum 16. Stock.“

Auch wenn Sido selbst im 6. wohnt, im deutschen Rapgeschäft ist er längst ganz oben: Sein Debütalbum „Maske“ (Aggro Berlin/Groove Attack) ist Anfang Mai auf Platz 3 der deutschen Albumcharts eingestiegen – die höchste Platzierung einer Independent-Produktion seitdem in Deutschland Charts ermittelt werden. Wo immer er dieser Tage seine Maske aufsetzt, bricht eine Massenhysterie aus: mehr oder weniger minderjährige Mädchen entblößen auf Sido-Konzerten reihenweise ihre Brüste und stehen, sobald das Putzlicht angeht, Schlange, um vom Meister mit ins Hotel genommen zu werden. „Wer erst ab jetzt deutschen Rap hört, hat nichts verpasst“, behauptet Sido, und der beispiellose Trubel um ihn zeigt, dass er Recht haben könnte.

So zwingend durchgeknallt wie „Maske“, das wird auch die Bundesprüfstelle für Jugend gefährdende Schriften nicht abstreiten können, so fahrlässig komisch war deutscher Rap noch nie. Dabei ist Sidos Überraschungserfolg durchaus sinnbildlich für das am Boden liegende Genre „Deutsch-Rap“. Wie ein überdosiertes Drogenopfer, dem soeben eine doppelte Dosis Adrenalin mitten in Herz injiziert wurde, kehrt Sido aufrecht und kerzengerade auf eine Party zurück, die bereits im Aufbruch begriffen ist.

„Aus dem Weg, jemand hat Sido wiederbelebt“, heißt es zu Beginn seines Album und man ahnt bereits nach wenigen Takten, dass es nicht nur Sido ist, der gerade ins Leben zurückkehrt. Gesund klingt das trotz allem nicht: „Steig ein, zieh die weiße Line, die Party geht auf mich, behalt den Schein“, rappt Sido durchaus jugendgefährdend über Beats, die nicht umsonst klingen, als hätte er sein Equipment versehentlich an die Starkstromanlage eines Raves angeschlossen. Rappen übers „Feiern auf Tabletten“: ein Sakrileg in einer Szene, in der es immer Konsens war, Techno als „Marschmusik“ und Ecstasy als „schwule Weichmacherdroge“ zu verachten.

Während seine etablierten Kollegen Kool Savas und Samy Deluxe zusehends verbissen die deutsche Rap-Krone verteidigen und dabei immer mehr um sich selbst und ihre technische Überlegenheit kreisen, macht sich Sido erst mal frisch und tut konsequent das, was er am besten kann: haarsträubende Geschichten erzählen. Im vollen Bewusstsein, dass es bessere Rapper gibt als ihn, vertraut er auf seine Beobachtungen, erzählt von geplatzten Träumen, von arbeitslosen, alkoholabhängigen Eltern, von durchgemachten Techno-Wochenenden auf Koks und Ecstasy, kleinen Messerstechereien unter Freunden und nicht zuletzt von den Vorzügen eines „zärtlichen Arschficks“.

Kurzum: von alldem, was das durchschnittliche (nicht nur Unterschichts-)Leben eines deutschen Jugendlichen mehr oder weniger erträglich macht. Und natürlich, auch deshalb klingelt die Kasse, von all dem, was in den Ohren pubertierender Bürgersöhnchen schön authentisch nach kaputtem Spaß und wilden Ghettoabenteuern klingt.

„Wärst du ein Sohn wie ich, deine Mama wär nicht stolz auf dich“, rappt er in einem der denkwürdigsten deutschen Songs der letzten Jahre, einer Liebeserklärung an seine Mutter: „Ich geh klauen, scheiß auf Frauen und nehm Drogen, doch Mama kann mir vertrauen, ich bleib immer auf dem Boden. Ich hab die Schule verkackt, und zwar so schlecht wie keiner, man war halt nicht so konzentriert, wenn man schon morgens high war.“ Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Mit Gangster-Rap hat das alles nichts zu tun. Sido macht Kleinkriminellen-Rap für Klein-Konsumenten und ist damit repräsentativer für die real existierende Wohnsilo-Jugend, als mancher wahrhaben möchte.

„Ich bin einfach ehrlich“, sagt er, jetzt nicht mehr auf dem MTV-Sofa, sondern zurück im heimischen Block. 38 süßlich riechende Quadratmeter, Couchgarnitur, Großbildfernseher, an der Wand ein paar Dessous-Models und die gerade abbezahlte Schrankwand von Quelle. Ohne Maske wirkt er direkt vernünftig und man glaubt ihm sofort, wenn er sagt: „Wirklich, ich sage nur, wie es ist.“ Der Mann, der hierzulande gerade so viel Platten verkauft wie George Michael und Prince, sieht ohne silberne Sichtblende seltsam besonnen aus. Ein stinknormaler 23-Jähriger mit Tattoos, Carhartt-Klamotten und leicht geröteten Augen. Einer, der wie hunderttausend andere Altersgenossen auch, ebenso spät wie karg frühstückt. „Ghettofrühstück“ sagt er, mit Blick auf die stattliche Bong neben sich, und schon ist man beim Thema: das Ghetto, für Sido Dreh- und Angelpunkt seiner Gedankenwelt. „Wie oft hab ich gelesen, dass es in Deutschland keine Ghettos gibt. Aber guck dich um: Hier knallen sich vielleicht keine Neger auf Crack ab, und trotzdem passiert hier jede Menge Scheiße. Das sind alles Sozialwohnungen hier, alle Armen und alle Assis werden hier einquartiert. Dann baut man uns ein Einkaufszentrum, mit Saturn und allem, damit wir zum Klauen bloß nicht auf den Ku’damm fahren. Was bitte, ist das anderes als ein Ghetto? Hier gibt es Jugendliche, die wissen nicht mal, wo Charlottenburg ist. Die werden, wenn sie keine Freundin von außerhalb haben, für immer hier bleiben und wenn es gut läuft das Sozialamt bescheißen und Drogen verkaufen.“

Ein Stück soziale Realität, das Sido nicht betroffen verhandelt, sondern lieber auf Exzess- und Fluchtmöglichkeiten hin abklopft. Ein bisschen Spaß muss eben sein, auch wenn der sich darin erschöpft, anderen Jugendlichen die neuen Turnschuhe zu klauen. Oder: wie jedes Wochenende Drogen zu nehmen, bis sich der Unterkiefer selbstständig macht. „Ich sag dir, jeder Jugendliche hier, weiß genau, wovon ich rede. Und es gibt in Deutschland eine Menge Ecken wie diese, eine Menge Leute, die genauso drauf sind wie ich.“

Auch das darf nicht verschwiegen werden: dass es ähnlich viele Leute gibt, die Sido für wenig mehr als Abschaum halten, Leute, die sich angeekelt abwenden, wenn er auf die Frage, warum er über Analverkehr rappe, ganz ernsthaft antwortet, das sei nun mal „dass engere Loch von beiden“. Einfache Wahrheiten können bisweilen sehr verwirrend sein, gerade wenn sie nicht, wie gewohnt, auf Englisch verkündet werden. Und so kann es dieser Tage durchaus passieren, dass ein und dieselbe Person Sido für den Untergang des Abendlandes verantwortlich macht und gleichzeitig dass neue Album von Eminems Band D-12 als humorvoll lobt. Immerhin eine Platte, auf der 13-Jährigen gepredigt wird, es sei nie zu früh eine Frau zu schlagen. Eine Unverhältnismäßigkeit, die dazu führt, dass Musikmagazine wie Spex Jugendkultur Jugendkultur sein lassen und erst gar nicht über Sido berichten.

Sido kann es gleich sein: Die dreckigen Straßen, von denen er rappt, führen direkt in die aufgeräumten Kinderzimmer der Konsumenten – trotz Indizierungsverfahren. Auch der Traum von einem Penthouse-Loft, hoch über den Dächern seines Blocks, rückt stündlich näher. „Guck dich um, wie ich hier wohne“, sagt er, „und da draußen machen sie einen Aufstand, als wär ich von den Backstreet Boys. Ich weiß, dass mein Album gut ist. Aber irgendetwas anderes muss mit im Spiel sein. Entweder läuft durch dieses Rohr in unserem Studio Aura-Flüssigkeit. Oder aber: Es ist die Maske.“

Keine Frage: Wie er da sitzt und sich einen Kopf klar macht, blass und ohne Gesichtsschutz, tröpfelt die Aura-Flüssigkeit eher, als dass sie fließen würde. Sido ist müde nach all dem Wirbel, vielleicht ist er sogar ein bisschen schüchtern. „Ich wollte nie erkannt werden“ sagt er. „Deshalb die Maske. Im Grunde bin ich eher menschenscheu. Und jetzt das.“ Sido macht eine Pause, vielleicht damit er besser wirken kann – dieser Satz, den vor ihm, noch kein deutscher Popstar sagen durfte: „Die Mädchen, sie flehen mich an, auch beim Sex die Maske aufzusetzen.“ Dann klickt das Feuerzeug, und der dicke, graue Rauch kriecht langsam den Glaszylinder hoch. Sido hustet, schaut aus dem Fenster und erzählt von seiner Mama – wie dankbar er ihr sei, dass sie immer zu ihm gehalten habe.

Draußen, zwischen Billig-Discountern und Alkoholikertreffs überkommt einen dann selbst so etwas wie Dankbarkeit – den deutschen Behörden gegenüber. Dankbarkeit dafür, dass Sidos Nachbarn weiter das Sozialamt bescheißen dürfen, anstatt Riots anzuzetteln. Dankbarkeit auch dafür, dass die Mühlen der Bürokratie langsam mahlen: Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften entscheidet erst Anfang Juli über ein Verbot von „Maske.“ Zeit genug für jeden, das beste Album der deutschen Rap-Geschichte zu kaufen.