Lächelt! Ihr werdet gefilmt!

Die bei Film und Bühne beschäftigten Franzosen wollen sich das Privileg des Arbeitslosengeldes, das sie automatisch zwischen ihren Engagements beziehen, nicht nehmen lassen. Nun drohen sie in Cannes die Stufen des Grand Théâtre hinaufzuschreiten

VON CRISTINA NORD

Sobald man die Rolltreppe, die vom Erdgeschoss in den ersten Stock des Palais du Festival führt, verlässt, steht man vor einem Flachbildschirm. Ein Nachrichtensender ist eingeschaltet; der Ton abgestellt. Das Bild zeigt einen entkleideten Häftling, er ist an den Rahmen eines Stockbettes gefesselt, eine Unterhose wurde ihm über den Kopf gezogen. Es wird noch einen Tag dauern, bis dieser Bildschirm die Aufnahmen von Pressekonferenzen, von Stars und von deren allabendlichem Defilee auf den Stufen zum Grand Théâtre Lumière zeigen wird. Doch am Dienstagnachmittag wird der rote Teppich gerade erst ausgerollt. Die Stufen hinaufgestiegen sind bisher nur die Handwerker und Techniker, und ich habe den Eindruck, dass die Filmbilder der kommenden zehn Tage das Bild aus dem Irak nicht zur Seite schieben werden –zu viel Wucht hat dieser Einbruch der Wirklichkeit in die Parallelwelt des Filmfestivals.

Ein zweiter Einbruch der Wirklichkeit ist den Intermittents, den Schauspielern, Bühnenarbeitern und Technikern, geschuldet, die bis vor einem Jahr in den Genuss von Zahlungen aus der Arbeitslosenkasse kamen, sobald sie kein Engagement hatten. Vergangenen Juni erging der Beschluss, diese Zahlungen radikal zu kürzen. Die Proteste der Intermittents beeinträchtigten damals die Festspielsaison, das Festival von Avignon etwa kam erst gar nicht zustande. Nun haben die Intermittents gedroht, das Festival von Cannes zu blockieren, es sei denn, die Festivalleitung gewährt ihnen einen angemessenen Rahmen, um ihre Forderungen vorzutragen. 500 von ihnen zählen zu den insgesamt 30.000 in Cannes Akkreditierten; sie haben Zutritt zum Palais du Festival und mithin die Möglichkeit, den Betrieb dort zu beeinträchtigen.

Prominente französische Filmschaffende haben sich mit den Intermittents solidarisiert, unter ihnen die Regisseurin Agnès Jaoui, die ihren Spielfilm „Comme une image“ („Wie ein Bild“) im Wettbewerb zeigt. „Gäbe es die Intermittens nicht, es gäbe auch unsere Filme nicht“, heißt es in einer Erklärung. Vor dem Palais hat derweil ein Dutzend blau uniformierter Polizisten Stellung bezogen, und die Geschäftsleute von Cannes sind so wenig amused, dass sie gegen mögliche Beeinträchtigungen des Festivalbetriebs auf die Straße gingen. Am Dienstag zogen mehrere hundert von ihnen durch die Kleinstadt. Auf ihren Stoffbändern waren folgende Forderungen zu lesen: „Es lebe Cannes!“ – „Es lebe das Festival!“ – „Es lebe die Arbeit!“

In letzter Sekunde kam es dann doch noch zum Kompromiss zwischen der Festivalleitung und den Intermittents. Jene gesteht diesen diverse Möglichkeiten zu, im Verlauf des Festivals auf sich aufmerksam zu machen. Bei der Eröffnung gestern Abend, so war gestern früh in Libération zu lesen, sollte eine Delegation der Intermittents auf den Stufen zum Grand Théâtre Lumière vertreten sein. Am Samstag wird es ein Picknick am Strand geben, bei dem die Intermittents sich den Fragen des Publikums stellen wollen. Am Sonntag dürfen sie im Festivalpalais eine Pressekonferenz abhalten, und außerdem hat Agnès Jaoui sie eingeladen, mit ihr und ihrem Team die Stufen zum Grand Théâtre Lumière zu erklimmen, bevor ihr Wettbewerbsbeitrag gezeigt wird. Hoffentlich kommen die ihrer Strenge wegen gefürchteten Saaldiener nicht auf den dummen Gedanken, den Intermittents den Zutritt zu verwehren, falls sie aus Versehen braune statt schwarze Schuhe tragen. Libération jedenfalls schreibt vorsorglich: „Lächelt, Intermittents, ihr werdet gefilmt.“

Den vergnüglichsten Einbruch der Wirklichkeit führte die Verkehrspolizei herbei. Auf der Autobahn zwischen Béziers und Montpellier entzog sie am Dienstag fünf Fahrern den Führerschein. Die fünf nahmen an einem unangemeldeten Autorennen, einer so genannten Millionärsrallye teil, die von Paris nach Cannes führt. Erlaubt war Tempo 130, die Millionäre aber fuhren bis zu 191 Stundenkilometer schnell. Mit schicken Wagen von Lamborghini, Ferrari, Maserati und anderen Herstellern. Zuvor wurden bereits zehn Teilnehmer der Rennpartie – bei der laut unbestätigten Berichten auch der Schauspieler Adrien Brody zugegen ist – von der Polizei ermahnt, hatten sie doch Geräte zum Aufspüren von Radarfallen an Bord.