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Archiv-Artikel

„Man kann Demokratie nicht herbeibomben“, sagt Michael Lüders

Der Irak zeigt, dass der US-Weg nicht funktioniert. Wie wäre es statt Raketen mal mit Geld für Bildung im Nahen Osten?

taz: Herr Lüders, lässt sich die arabische Welt demokratisieren?

Michael Lüders: Die Möglichkeit ist da. Es bedarf allerdings eines langen Atems. Demokratisierung kann es nicht mit militärischen Mitteln geben. Aus der Mitte der jeweiligen Gesellschaften heraus muss eine Entwicklung befördert werden, die Pluralität überhaupt erst zulässt. Die US-amerikanische Absicht, im Irak mit Waffengewalt eine Demokratie einzuführen, hat dazu geführt, dass das Land jetzt in Chaos und Anarchie versinkt. Im Augenblick kann wohl nicht mehr von einer Demokratisierung des Nahen Ostens die Rede sein. Zurzeit geht es nur darum, eine Explosion zu vermeiden.

Bedeutet Veränderung von innen heraus, dass im Gegenzug westliche Gesellschaften ihre Auffassung von Demokratie und Menschenrechten relativieren müssen?

Nein, Demokratie und Menschenrechte sind nicht zu relativieren. Ein iranisches Folteropfer leidet unter der Folter genauso wie ein Opfer irgendwo sonst auf der Welt. Es darf nicht um Kulturrelativismus gehen. Es geht darum, die Werte, für die der Westen eintritt, auch glaubwürdig umzusetzen. Und es ist eben nicht glaubwürdig, von Demokratie und Menschenrechten zu reden, gleichzeitig aber ein Regime wie etwa das in Algerien im Rahmen des Anti-Terror-Kampfes kritiklos zu hofieren. Damit diskreditiert sich die Demokratie als Modell.

Kann es denn auf der Basis des Islam oder der arabischen Kultur eine Demokratisierung geben?

Grundsätzlich sind Gesellschaften, genauso wie Individuen, nie statisch, sie entwickeln sich. Und es gibt auch in der arabischen Welt eine eigene Tradition von Demokratie, etwa im Bereich der Schura, der traditionellen Ratsversammlungen.

Zur Demokratie gehören auch Wahlen.

Wahlen sind sinnvoll, aber möglicherweise nicht als Originalkopie westlicher Verhältnisse – dafür sind die gesellschaftlichen Bedingungen nicht da. Wenn man in Ländern wie Irak oder Saudi-Arabien Wahlen durchführte, dann würden nicht bürgerliche, sondern ethnische oder religiöse Parteien als Gewinner hervorgehen. Menschen in einer Stammesgesellschaft wählen eben nicht nach übergeordneten Interessen, sondern entscheiden sich für ihre jeweilige Bevölkerungsgruppe. Insofern sind Wahlen nur eine Proportionierung der ethnischen oder religiösen Verhältnisse.

Was bleibt dann als kurzfristiges Ziel?

Es muss darum gehen, rechtsstaatliche Prinzipien zu vermitteln und verbindlich einzuführen, sodass sich alle gesellschaftlichen Gruppen in einem politischen Prozess wiederfinden, der nicht gekennzeichnet ist von Repression.

Wie stehen denn die Chancen, dass es ein Aufbrechen der alten Strukturen gibt?

Die jüngsten UN-Berichte zum Stand der Entwicklung in der arabischen Welt benennen die großen Defizite der arabischen Welt: ein Mangel an Freiheit, an Bildung und an Entwicklungschancen. Wenn man Demokratie wirklich konstruktiv umsetzen will in der Region, muss man diesen Umständen Rechnung tragen. Konkret: Nicht Militärinterventionen helfen, sondern, beispielsweise, Investitionen in das Bildungssystem. Man muss die Regime zwingen, die Ressourcen für die nötige Infrastruktur einzusetzen.

Damit hat man aber noch keine Anschläge eines Ussama Bin Laden verhindert.

Ussama Bin Laden war ursprünglich der Chef einer stark hierarchisch organisierten Bewegung namens al-Qaida. In den letzten zwei Jahren hat sich al-Qaida neu organisiert, operiert jetzt weltweit in lose verbundenen Zellen, die beseelt sind von derselben Ideologie. Selbst wenn Bin Laden morgen gefasst würde, würde der Terror weitergehen. Dem Terrorismus geben Ereignisse wie der Krieg im Irak oder die einseitige Unterstützung der Politik Scharons durch die USA Nährboden. Das empört selbst die bürgerlichen Mittelschichten in arabischen Ländern.

Ihre Prognose: Wie wird der Nahe und Mittlere Osten in zehn Jahre aussehen?

Viel hängt von den US-Wahlen im November ab. Wenn Kerry gewinnt, wenn wieder Pragmatismus einkehrt in die internationalen Beziehungen und eine einigermaßen gerechte Ordnung für die Region angepeilt wird – also Mandat der UN für den Irak, eine ausgewogene Lösung der Palästinafrage, Rückzug der Israelis aus den besetzten Gebieten – dann kann der Anti-Terror-Kampf gelingen. Wenn Bush noch einmal gewinnt, dann ist das meiner Meinung nach eine Katastrophe nicht nur für die US-Amerikaner, sondern auch für den Nahen und Mittleren Osten insgesamt, weil dann in den nächsten vier Jahren Dinge gefestigt werden, die kaum noch rückgängig zu machen sind.

Die Konsequenz?

Wenn die Muslime in der Region das Gefühl haben, der Westen ist ein Feind, der sie in jeder Beziehung militärisch zu schlagen und zu unterwerfen sucht, dann wird der Terror eine Begleiterscheinung unseres Lebens werden. Die Politiker im Westen werden aber mehrheitlich nicht begreifen, dass sie mit verantwortlich für diese Entwicklung sind. Stattdessen werden sie immer mehr auf Härte setzen, bis der Bogen überspannt ist. Und was dann passiert, wissen wir nicht.

INTERVIEW: ERIC CHAUVISTRÉ