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Archiv-Artikel

Halb Warschau ist verbarrikadiert

Erstmals tagt der Europäische Wirtschaftsgipfel in Polen. Globalisierungskritiker kommen zu Kongress und Demo

WARSCHAU taz ■ Nur drei Tage vor dem Beitritt Polens zur EU sieht die Hauptstadt Warschau aus, als stünde ein Krieg bevor: Im Zentrum Warschaus sind die Läden mit massiven Holzplatten verrammelt, die Notenbank sieht aus wie ein Kasten aus Blech und Stahl, Straßenbahnen und Busse fahren nicht mehr ins Zentrum, Kindergärten, Schulen und sämtliche Ämter sind geschlossen. Der Grund: Zum ersten Mal in der Geschichte findet der Europäische Wirtschaftsgipfel nicht im österreichischen Salzburg statt, sondern ab heute in der Hauptstadt Polens.

800 Wirtschaftsbosse und Manager aus ganz Europa werden erwartet, Präsidenten und Premierminister aus 20 Staaten, außerdem rund 5.000 Globalisierungskritiker, die auf einem alternativen Wirtschaftsgipfel ihre Sicht auf die Entwicklung in Wirtschaft und Politik darstellen wollen.

Staatspräsident Aleksander Kwašniewski hatte auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos für Warschau als neuen Veranstaltungsort geworben. Nach der EU-Erweiterung, so sein Argument, müssten auch Staaten wie Polen, Tschechien, Litauen oder Slowenien öfter im Rampenlicht der Welt stehen. Der erste Gipfel in Warschau ist zugleich ein Testfall: Geht alles gut, wird der Europäische Wirtschaftsgipfel von Salzburg nach Warschau umziehen und demnächst immer in Polen stattfinden. Die Vorbereitungen laufen schon seit Monaten auf Hochtouren. Nach einer misslungenen Antiterrorübung wurde der Kulturpalast als Veranstaltungsort gestrichen. Jetzt findet der dreitägige Gipfel im Hotel Viktoria am Theaterplatz statt, das hermetisch abgeriegelt werden kann. Entnervt von den strengen Sicherheitsmaßnahmen, aber auch aus Angst vor Krawallen haben viele Warschauer die Stadt verlassen. Sie wollen erst nach dem 1. Mai zurückkommen. Ein Volksfest zum EU-Beitritt Polens ist ohnehin nicht geplant.

Auf dem Gipfel ist die EU-Erweiterung das zentrale Thema. Welche Chancen für die Wirtschaft eröffnet der EU-Beitritt von zehn Ländern? Welche Gefahren birgt er? Wenn in einem Land vermehrt investiert wird, wächst dann in einem anderen die Arbeitslosigkeit? Zur Debatte stehen die Zukunft des Stabilitätspaktes, Sinn und Zweck der Gemeinsamen Agrarpolitik und die horrenden Zuschüsse für die EU-Landwirte, sowie das Europa der zwei Geschwindigkeiten. Daneben gibt es zahlreiche Foren für Geschäftsleute, die sich über Investitionsmöglichkeiten informieren wollen, über Arbeitsrecht, Umweltschutzauflagen, Bedingungen für den Grunderwerb oder Finanzdienstleistungen verschiedener Banken.

Ein ganz ähnliches Programm – nur mit anderer Ausrichtung – bietet der alternative Wirtschaftsgipfel. Allerdings wird er wohl unter freiem Himmel stattfinden. Aus Angst vor möglichen Krawallen wollte niemand in Warschau einen Veranstaltungsort vermieten. Die aus aller Welt angereisten Teilnehmer des alternativen Wirtschaftsgipfels müssen sich also mit der grünen Wiese vor der Warschauer Wirtschaftshochschule SGH begnügen, wenn sie die Konferenzen, Diskussionen und Vorträge zu „Pathologien der modernen Wirtschaft“, „Strategien zur Verhinderung umweltschädlicher Investitionen“ oder der „Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ verfolgen wollen.

Das Weltwirtschaftsforum, das den Europäischen Wirtschaftsgipfel organisiert, ist eine Stiftung mit Sitz in Genf. Sie veranstaltet weltweit Diskussionsforen für Politiker, Manager und Wissenschaftler und wird durch Beiträge ihrer Mitglieder finanziert – 1.000 Konzerne mit einem Umsatz von mehr als einer Milliarde Dollar. Das bekannteste Treffen findet jährlich in Davos statt. GABRIELE LESSER