: Guantánamo im Vakuum
Der Oberste Gerichtshof der USA entscheidet darüber, ob für die im Militärstützpunkt internierten Häftlinge rechtsstaatliche Standards gelten. Das ist von globaler Bedeutung
Gegenwärtig läuft vor dem Obersten Gerichtshof der USA ein Verfahren, dessen Ausgang nicht nur das Rechtssystem der Vereinigten Staaten berühren, sondern auch international Auswirkungen auf den Bestand rechtsstaatlicher Garantien haben wird. In Frage steht, ob die auf dem amerikanischen Militärstützpunkt Guantánamo internierten ausländischen Gefangenen vor amerikanischen Gerichten einen Anspruch auf rechtliches Gehör haben, bei dem über die Rechtmäßigkeit ihrer Internierung entschieden wird.
Der erste Satz des „brief“, mit dem die Bush-Administration ihr Vorgehen auf Guantánamo rechtfertigt, lautet: „Dieser Rechtsfall ereignet sich inmitten eines globalen bewaffneten Konflikts, in dem die USA gegen das terroristische Al-Qaida-Netzwerk und dessen Verbündete engagiert sind.“ Mit diesem dramatischen Auftakt ist der Grundton des Schriftsatzes festgelegt: die Bush-Doktrin vom „internationalen Krieg gegen den Terrorismus“. Das Problem dieser Doktrin liegt nicht darin, dass der Kampf gegen die Terroristen nicht in der traditionellen Vorstellung vom Krieg aufgeht. Vielmehr zeichnet sich die Bush-Doktrin dadurch aus, dass die Gründe für militärische Interventionen wie die Kriegsziele nach Belieben der USA wechseln, wie die Intervention im Irak belegt. Unter dem Prätext einer globalen Gefahr wird der permanente Kriegszustand proklamiert. Aber dieser „Krieg“ ist wiederum doch kein Krieg in dem Sinn, dass die USA sich den völkerrechtlichen Regelungen der Kriegsführung oder den in den USA geltenden Rechtsgarantien unterwerfen würden. Weshalb die Gefangenen von Guantánamo weder als Kriegsgefangene angesehen werden noch als Beschuldigte in einem Strafverfahren. In beiden Fällen würden ihnen wohl definierte Rechte zustehen. Nach der Bush-Doktrin aber sind sie rechtlos.
Die die Regierung vertretenden Bundesanwälte argumentieren deshalb auch, dass „eine rechtliche Überprüfung die militärische Fähigkeit der USA, den Krieg zu gewinnen, ernsthaft beschädigen würde“ und dass sie „eine direkte Einmischung in die Kriegsführung gegen al-Qaida und deren Verbündete“ darstelle. Sie wäre also ein Angriff gegen die Gewaltenteilung, sie beschneide das verfassungsmäßige Recht der Regierung, in dem ihr zugewiesenen Bereich ungehindert tätig sein zu können. Denn hier ginge es um eine – der Rechtsprechung – entzogene „political question“.
Diese Argumentation ist deshalb so gefährlich, weil sie in den Kernbestand verfassungsmäßiger Rechtsgarantien in den USA eingreift. Die Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Festnahme gemäß der „Habeas Corpus-Akte“, nach der Untertanen der englischen Krone nicht ohne gerichtliche Untersuchung inhaftiert werden durften, gehört zu den ältesten rechtsstaatlichen Institutionen nicht nur des Common Law (sie erhielt 1679 in England ihre im Grundsatz bis heute gültige Gestalt). Sie gilt auch kraft der amerikanischen Verfassung und kraft des Bundesgesetzes – und sie hat heute weltweite Geltung. Eine richterliche Prüfung nach Habeas Corpus ist nach amerikanischem Gesetzeswortlaut nicht daran gebunden, dass der Inhaftierte sich im Geltungsbereich der Souveränität der USA aufhält. Es ist nach der Rechtsprechung lediglich erforderlich, dass die Regierung die politische und rechtliche Kontrolle über das Territorium ausübt, wo der Gefangene den „writ of habeaus corpus“ begehrt.
Dass die USA unbeschränkt und unbefristet über Guantánamo herrschen, ist unbestritten, weshalb des Argument der Regierung, es ginge nur um einen Pachtvertrag und die letzte Souveränität läge bei Kuba, extrem künstlich und konstruiert wirkt. Die Bundesanwälte berufen sich hier auf ein Urteil des Obersten Gerichtshofs gegenüber verurteilten Deutschen in der Nachkriegszeit, in der die Frage des Habeas Corpus gar keine Rolle spielt. In Wirklichkeit wissen alle Beteiligten, dass Guantánamo nur gewählt wurde, um den Gefangenen alle Rechtsgarantien zu verweigern.
Die amerikanische Regierung ist darüber hinaus der Ansicht, dass auch internationale kriegsvölker- und menschenrechtliche Verträge zum Schutz von Gefangenen hier nicht gelten, eben weil das Habeas-Corpus-Begehren an die Souveränität der USA über das Territorium gebunden seien, wo der Gefangene sich aufhält. Vor allem aber stünde dem Gefangenen aus den Menschenrechtskonventionen und Verträgen kein unmittelbares Klagerecht zu. Die erste Argumentation ist, wie gezeigt, haltlos, die zweite falsch. Denn in dem Bundesgesetz der USA zu „Habeas Corpus“ ist festgelegt, dass auch aus Verträgen sich ein Anspruch auf gerichtliche Nachprüfung der Verhaftung beziehungsweise Internierung herleitet.
Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen, Juristenvereinigungen und Politiker in den USA und weltweit haben kritisch zur Guantánamo-Praxis der Bush-Administration Stellung bezogen und sind den Internierten auch als Freunde des Gerichts (amici curiae) im Verfahren zur Seite getreten. Die Verhandlung vor dem Obersten Gericht hat schon jetzt eine politische Mobilisierung demokratischer Kräfte bewirkt, die viel stärker ist als bei früheren Angriffen auf die Substanz der amerikanischen Verfassung, etwa zu Zeiten des Kalten Krieges und der damaligen Hexenjagd gegen alles, was links war. Insofern ist es sicher falsch, von einem gesetzmäßigen Prozess in den USA in Richtung Totalitarismus unter Wahrung einer demokratischen Fassade zu sprechen. Aber die Auswirkungen des „Falls Guantánamo“, die Behandlung von Internierten auf anderen Basen unter amerikanischer Kontrolle und nicht zuletzt die Sicherheitsgesetze im Gefolge des 11. 9. 2001 fügen sich zum Gesamtbild einer autoritären Regierungspraxis. Die mittelbaren Rückwirkungen dieses Prozesses auf den Umgang mit Grundrechten sind auch in Ländern spürbar, die wie die Regierung der Bundesrepublik in kritischer Distanz zur Doktrin des „internationalen Kriegs gegen den Terror“ stehen. Wichtig ist hierbei vor allem der Versuch interessierter rechtskonservativer Kreise, in der öffentlichen Meinung die Maßstäbe zu verschieben. Jetzt ist die Rede von angeblich neuen Erfordernissen im Antiterrorkampf, denen sich die bestehenden völker- und menschenrechtlichen Bestimmungen fügen müssten. In rechtskonservativen Publikationen stoßen wir auf die These, dass mitsamt der UNO auch die internationalen Pakte auf dem Sterbebett lägen und dass der Kampf gegen den Terrorismus nur im Zeichen eines durch Rechtsschranken nicht gehinderten amerikanischen Hegemonismus gewonnen werden könnte. Stand in den 90ern erweiterter individueller Menschenrechtsschutz im Zentrum der Rechtsentwicklung, so ist es jetzt dessen Einschränkung im Zeichen des globalen Terrors. Dem für Juni erwarteten Urteil des Obersten Gerichtshofs kommt eine über die USA hinausgehende Bedeutung zu. Ein Sieg der Internierten wäre ein erster Schritt, den unheilvollen Trend zu bremsen.
CHRISTIAN SEMLER