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Archiv-Artikel

lexikon der globalisierung Was ist Bevölkerungskontrollpolitik?

Initiiert durch US-amerikanische Industriellen- und Wissenschaftlerkreise wurde das Wachstum der Weltbevölkerung vor 50 Jahren als „Überbevölkerung“ in den Ländern des Südens und als globale Bedrohung definiert. Auf die Globalisierung des Themas folgte die Internationalisierung von Bevölkerungspolitik durch den institutionellen und operativen Aufbau eines Global Governance Regimes zur Kontrolle der Bevölkerungen im Süden.

Seither hatte die Rechtfertigung von Bevölkerungskontrollpolitik im Süden eine wechselhafte Geschichte. Bevölkerungskontrolle wurde im Kalten Krieg als sicherheitspolitische Maßnahme gegen den Kommunismus legitimiert, dann als Entwicklungsstrategie gegen Armut und „Unterentwicklung“, als ökologische Maßnahme gegen Ressourcenverknappung, zuletzt als Abwehrstrategie gegen Migration und Frauenförderung.

Gemeinsam ist diesen Legitimationen die neomalthusianische Logik, die hohe Geburtenraten als Ursache jedweder politischer und wirtschaftlicher Probleme deutet und die Verantwortung letztlich bei den Betroffenen selbst sieht. Katastrophenvokabular wie „Bevölkerungsbombe“, „Explosion“ und „Migrantenflut“ mit eugenischen und rassistischen Einsprengseln wurde zur Dämonisierung und zur Erzeugung von Angst als hegemonialer Struktur im öffentlichen Bewusstsein eingesetzt.

Die Forschung entwickelte Reproduktionstechnologien, um die „Rationalisierung der Fortpflanzung“ zu ermöglichen, ein Boommarkt für Verhütungsmittel entstand. Die Weltbank und andere Entwicklungsagenturen setzten die Nationalstaaten unter Druck, Familienplanungsprogramme durchzuführen. Um demografische Plansolls zu erfüllen, kam es vor allem in China und Indien zu brutalen Zwangsmaßnahmen. Projekte zur Geburtenreduktion zielten selektiv auf sozial schwache, indigene und marginalisierte Gruppen.

Frauenbewegungen kritisierten, dass quantitative und qualitative Kontrolle der Bevölkerung am weiblichen Körper ausgetragen wird. Sie setzten selbst bestimmte Geburtenkontrolle und „reproduktive Rechte“ als Gegenkonzept gegen demografische Regulierungspolitik.

Bei der UN-Bevölkerungskonferenz 1994 in Kairo wurde auch der Ansatz „reproduktiver Gesundheit“ in die Bevölkerungskontrollstrategien integriert. Die politischen Eliten fanden einen den Süd-Nord-Gegensatz überbrückenden Konsens zur Reduzierung des Bevölkerungswachstums, während gleichzeitig durch neoliberale Gesundheitsreformen die medizinische Basisversorgung abgebaut wird.

CHRISTA WICHTERICH

Das Lexikon entsteht in Kooperation mit dem Wissenschaftlichen Beirat von Attac. Nächste Woche: Neokolonialismus