: Die Ukraine soll draußen bleiben
VON SABINE HERREUND DANIELA WEINGÄRTNER
Nach der Erweiterung ist vor der Erweiterung. Wenn die Europäische Union in 18 Tagen zehn neue Mitglieder bekommt, hat sie noch lange nicht ihre endgültige Größe erreicht. 2007 folgen Bulgarien und Rumänien, Ende des Jahrzehnts wohl die Mehrheit der Balkanstaaten wie Kroatien. Und auch eine EU-Mitgliedschaft der Türkei wird immer wahrscheinlicher. Doch dem nicht genug: Anfang April hat Georgien erklärt, in spätestens drei Jahren die EU-Mitgliedschaft beantragen zu wollen. EU-Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein kommentiert: „Wer die Türkei aufnimmt, muss auch die Ukraine und Weißrussland zulassen.“
Tatsächlich hat nach Artikel 49 des EU-Vertrags „jeder europäische Staat“ das Recht die Mitgliedschaft in der Union zu beantragen. Zugleich jedoch hat schon die Debatte über die jetzt anstehende Osterweiterung deutlich gemacht, dass die Union bei ihrem Erweiterungsprozess Tempo wegnehmen muss. Weil sie sich sonst finanziell und politisch überfordert und die Gefahr besteht, dass sie, wie Bolkestein sagt, zu einer „gehobenen Zollunion“ wird. Da man den Staaten Osteuropas aber nicht einfach die Aufnahme verweigern kann, sucht die EU jetzt nach neuen Möglichkeiten der Kooperation.
So veröffentlichte die EU-Kommission im März 2003 eine Mitteilung mit dem Titel „Größeres Europa: Ein neuer Rahmen für die Beziehungen der EU zu ihren östlichen und südlichen Nachbarn“. Analysiert werden darin die Beziehungen nicht nur zu den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, sondern auch zu Israel, Syrien, Libyen und dem Maghreb. 450 Millionen Menschen zählt die EU der 25 Mitgliedstaaten, weitere 385 Millionen leben in den an sie angrenzenden Ländern. Für sie, so die Mitteilung, müsse ein neues politisches Instrument ausgearbeitet werden, das die derzeit bestehende grenzüberschreitende Förderpolitik weiter entwickle. Ziel ist es aber auch, „das reibungslose Funktionieren und die sichere Verwaltung der künftigen Grenzen im Osten und Süden“ sicherzustellen.
Sonderstatus für Russland?
Die Türkei wird von diesen Überlegungen ausdrücklich ausgeschlossen, da ihr als möglichem Beitrittsland ein Sonderstatus zusteht. Russland könnte sich zwar der Nachbarschafts-Gruppe anschließen, besteht aber als Supermacht auf einer eigenständigen Partnerschaft mit der Europäischen Union. Die wiederum räumt Russland wegen seiner Schlüsselstellung als Energielieferant gern Sonderbedingungen ein.
Der „Ring der Freunde“ den Kommissionspräsident Romano Prodi mit seiner neuen Nachbarschaftspolitik beschwört, soll in Wahrheit ein dreifacher Schutzring werden: Im Vordergrund steht das Interesse, den Ansturm von Wirtschaftsflüchtlingen auf das reiche Mitteleuropa abzupuffern. Die Nachbarn sollen sich in Rücknahmeabkommen dazu verpflichten, den EU-Staaten diese Arbeit abzunehmen.
Der zweite Ring soll den prosperierenden Wirtschaftsraum erweitern. Eine gigantische Aufgabe, denn das Wohlstandsgefälle zwischen der Union und ihren Nachbarn ist riesig. In Moldawien, dem ärmsten Land, liegt das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner bei 400 Euro, im reichsten Land Luxemburg hat es 50.000 Euro überschritten.
Der dritte Schutzring soll sich gegen den Terror und grenzüberschreitende Kriminalität schließen. In diesem Zusammenhang bekommen die nordafrikanischen Staaten, die bislang eher als Nachbarn zweiter Klasse angesehen wurden, eine ganz neue Bedeutung.
Das Dilemma, das die gesamte Diskussion über „drinnen und draußen“ durchzieht, spiegelt sich auch in der Kommissionsmitteilung wider. Einerseits sollen nur die Länder mit ins Boot, die politisch, wirtschaftlich, kulturell oder historisch zur EU passen. Andererseits bedeutet eine abgeschottete Grenze, dass dahinter die arme Welt beginnt.
Arme Nachbarn aber sind ein fortdauernder wirtschaftlicher und politischer Risikofaktor. Nur wenn sie menschenwürdig leben und zu Hause Zukunftschancen für sich sehen, bleiben die Menschen auch dort. Nur wenn sie der Union positiv gegenüberstehen, können sie in den Kampf gegen Terrorismus und grenzüberschreitende Kriminalität eingebunden werden.
Vor diesem Hintergrund hat die EU-Kommission mit einigen Mittelmeerländern sowie mit Moldawien und der Ukraine Gespräche über die Verbesserung der Beziehungen begonnen. Die Verhandlungen kamen aber rasch an einen toten Punkt. Denn beiden Seiten war nicht klar, was über die bereits bestehenden Assoziationsabkommen, die großzügige Handelserleichterungen enthalten, erreicht werden könnte.
Kommissionspräsident Prodi prägte den griffigen Spruch, die Nachbarn sollten „alles außer den Institutionen“ bekommen. Damit meinte er, dass die Nachbarstaaten mittelfristig Teil des gemeinsamen Marktes werden sollen. Auf Parlamentsabgeordnete, die Teilnahme an Ratssitzungen und eigene Kommissare in Brüssel jedoch verzichten müssen. Mit anderen Worten: Die armen Nachbarn könnten die wirtschaftlichen Vorteile der Union genießen, hätten aber politisch kein Mitspracherecht.
Gegen diese Überlegungen regte sich Widerstand bei den Mitgliedsstaaten, weshalb die Gespräche auf Eis gelegt wurden. Je nach geografischer Lage, Wirtschaftskraft und Sicherheitsbedürfnis sind die Interessen der EU-Länder sehr unterschiedlich. Polen dringt darauf, schon jetzt eine Verhandlungsgrundlage für Weißrussland auszuarbeiten. Diese könnte nach dem Ende der Diktatur von Präsident Lukaschenko aus der Schublade gezogen werden.
Außerdem hat Warschau seine besonderen Beziehungen zur Ukraine im Blick. Die bislang durchlässige Grenze mit unkompliziertem kleinem Grenzhandel wird nach dem 1. Mai hermetisch abgeschlossen. Das bedeutet für viele Grenzlandbewohner eine dramatische Veränderung ihres Alltags.
Die baltischen Staaten dagegen blicken sehr zwiespältig auf die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Während sie einerseits an guten Nachbarschaftsbeziehungen interessiert sein müssen, ist ihnen die Idee, die Grenzen durchlässig zu halten oder Fördermittel an ihre ehemaligen Besatzer weiterzuleiten, gleichzeitig zutiefst suspekt.
Und was ist mit Armenien?
Finnland wiederum fühlt sich den neuen Republiken im Südosten verbunden und drängt darauf, Georgien, Aserbaidschan und Armenien in das neue Konzept einzubeziehen. Schweden will Russland keinen Sonderstatus einräumen, sondern Moskau in das Nachbarschaftskonzept mit einbinden.
Der Rat wehrt sich ebenso wie das Europaparlament gegen Prodis Idee, den „Ring der Freunde“ in allen Fragen gleich zu behandeln. Daher haben sie der Kommission nun einen präzisen Arbeitsauftrag erteilt. Sie soll für jedes Nachbarland Bedingungen aufstellen, die erfüllt sein müssen, um in den Genuss von Privilegien zu kommen. Betroffen sind die Bereiche politische Zusammenarbeit, Binnenmarktregeln, Justiz und Inneres, verbesserte Infrastruktur und Förderung der Zivilgesellschaft.
Dies erinnert stark an Beitrittsverhandlungen. Denn auch dabei wird die Kommission beauftragt, so unterschiedliche Politikfelder wie Pressefreiheit, Korruptionsbekämpfung, Verwaltung und Sicherheit von Kernkraftwerken darauf hin zu prüfen, ob sie europäischen Standards genügen. Nach unterschiedlichen Fristen – zwei bis drei Jahre im Falle der Ukraine, fünf Jahre für die Mittelmeeranrainer – soll die Kommission prüfen, ob alle Punkte erfüllt sind.
Ob diese Strategie aufgehen kann, scheint fraglich. Die polnische, ungarische oder tschechische Regierung muteten ihrer Bevölkerung über Jahre hinweg schmerzliche soziale Einschnitte zu. Die Menschen blieben nur bei der Stange weil am Ende die Belohnung winkte: Die Aufnahme in den Kreis der Reichen und Glücklichen, die Mitgliedschaft in der EU.
Die Nachbarschaftspolitik aber soll gerade zum Ziel haben, die neuen Nachbarn draußen zu halten. Wie aber könnte ihnen die Anstrengung versüßt werde? Mehr Fördermittel? Das Geld in der EU ist jetzt schon knapp. Handelsprivilegien? Bereits jetzt hat die EU mit den Nachbarn Handelsabkommen, in denen die Einfuhrzölle abgeschafft sind.
Was also bleibt, wenn doch die Institutionen der EU den Nachbarn verschlossen bleiben sollen? Die begehrte vierte Grundfreiheit des Binnenmarkts (neben freiem Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr) wird in der Mitteilung der Kommission ausdrücklich als möglicher Anreiz genannt: Die Bürger der Nachbarländer sollen frei in die Union einreisen und dort arbeiten dürfen. Ob sich die neuen Nachbarn damit locken lassen, ist fraglich. Sie brauchen sich nur anzusehen, wie derzeit fast alle EU-Länder die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Polen, Tschechen und die anderen Osteuropäer drastisch einschränken. Dann können sie sich ausrechnen, dass ihre Bürger auf unbeschränkte Arbeitsmöglichkeiten in der EU wohl noch Jahrzehnte warten müssen.