: „Alle umbringen!“
Ein Standardwerk: Die britische Journalistin Linda Melvern beschreibt Genese und Durchführung des Völkermords in Ruanda
VON DOMINIC JOHNSON
Manchmal ist das deutsche Verlagswesen lernfähig. Mit „Ruanda: Der Völkermord und die Beteiligung der westlichen Welt“ von Linda Melvern ist zum ersten Mal die deutsche Übersetzung eines internationales Standardwerkes zum ruandischen Genozid gleichzeitig mit der Originalausgabe erschienen. Pünktlich zum weltweiten Gedenken an den 10. Jahrestag eines Völkermordes, der in 100 Tagen annähernd eine Million Menschenleben forderte, bekommen deutschsprachige Leser eine anschauliche und zugleich profunde Analyse, die von Umfang, Preis und Gliederung sicherlich zugänglicher ist als die vor anderthalb Jahren erschienene enzyklopädische Darstellung „Kein Zeuge darf überleben“ der Menschenrechtsexpertin Alison des Forges, die sich als Basiswerk durchgesetzt hat.
Kristallklar zeichnet Melvern, britische Journalistin mit einer auch in Großbritannien nicht mehr selbstverständlichen Neigung zu Nüchternheit und erzählerischer Präzision, die Genese und Durchführung der strategischen Planung nach, mittels deren Ruandas bis 1994 herrschende Hutu-Elite die Auslöschung der Tutsi-Minderheit in die Wege leitete und zwischen April und Juli 1994 auch umsetzte. Sie verwendet weniger Zeit als andere Ruanda-Historiker wie der Franzose Gérard Prunier oder der Ugander Mahmood Mamdani mit der Erörterung des Wesens von Hutu und Tutsi oder der Details der komplizierten Machtspiele, die dem Genozid vorausgingen: der Einmarsch von Exiltutsi-Rebellen der RPF (Ruandische Patriotische Front) in Ruanda im Oktober 1990, die nachfolgende Einführung eines Mehrparteiensystems, die Friedensverhandlungen mit der RPF und die von Hutu-Extremisten sabotierte Einsetzung einer Allparteienregierung 1993–94. Sie kommt vielmehr direkt zu dem Thema, das heutige Betrachter am meisten interessiert: dem Aufbau der Struktur aus Milizen und bewaffneten Gruppen, die 1994 die organisierten Massaker verübten.
„Nach allem, was man weiß“, erklärt Melvern gleich zu Beginn des entsprechenden Kapitels, „datieren die Pläne für den landesweiten Massenmord an den Tutsi in Ruanda auf das Ende des Jahres 1990. Die Vorstellung, dass der Völkermord an den Tutsi alle Probleme lösen würde, wurde ab Ende Oktober des Jahres in einer Reihe geheimer Treffen propagiert … Die geistigen Väter der Idee waren sich im Klaren darüber, dass sie dafür über die Polizei- und Armeeangehörigen hinaus weitaus mehr Helfer benötigen würden.“ Daraus entstand dann die Idee, Milizen zur „zivilen Selbstverteidigung“ unter den Bauern zu gründen – jene Milizen, die später als Exekutoren des Genozids dienten.
Die Idee, dass es einen Völkermord geben könnte, blieb kein Geheimnis. Ohne Datum, aber in einer Passage über europäische Reaktionen auf die Lage in Ruanda gegen Ende 1990 angesiedelt, zitiert Melvern ein Telegramm des damaligen französischen Botschafters in Ruanda nach Paris: „Die Tutsi unter der ruandischen Bevölkerung setzen immer noch auf einen militärischen Sieg, (der) es ihnen ermöglichen wird, einem Völkermord zu entkommen.“ Eine These von Melvern ist, dass die westlichen Großmächte – Frankreich, USA, Großbritannien – Bescheid wussten über das, was sich in Ruanda anbahnte, und es hätten verhindern können.
Genauer beleuchtet hat Melvern die Rolle des Westens beim ruandischen Völkermord in einem bereits 2001 veröffentlichten ersten Buch, „A People Betrayed: The Role of the West in Rwanda’s Genocide“. Dieses liegt nicht auf Deutsch vor, aber der Untertitel des ersten Buches ist nun zum Untertitel der deutschen Übersetzung des zweiten geworden. Das ist verwirrend, denn zahlreiche Details aus dem ersten Buch werden im zweiten nur noch kursorisch wiederholt und bleiben daher dem deutschen Publikum vorenthalten. Zum Beispiel, welche Rolle Butros Butros-Ghali 1990, als er noch im ägyptischen Außenministerium arbeitete, genau beim Einfädeln eines gigantischen Rüstungsgeschäfts zwischen Ägypten und Ruanda spielte. Butros-Ghali wurde später auf Vorschlag des französischen Präsidenten François Mitterrand UN-Generalsekretär; Mitterrand war ein persönlicher Freund des ruandischen Präsidenten Juvenal Habyarimana. Butros-Ghali trat während des Völkermordes für den raschen Abzug der UN-Blauhelme ein. All diese Dinge werden in Melverns zweitem Buch zwar kurz erwähnt, im ersten allerdings weitaus ausführlicher analysiert. Das Gleiche gilt für die Arbeit des UN-Sicherheitsrates während des Genozids, als der Rat in voller Kenntnis der Massaker beschloss, nicht einzugreifen.
Das jetzt vorgelegte zweite Buch profitiert hingegen davon, dass Linda Melvern die neuesten Gerichtsprotokolle und auch einige vertrauliche Unterlagen des UN-Tribunals zu Ruanda auswerten konnte, um die Geschichte des Völkermords in wichtigen Einzelheiten aus Sicht der Täter zu vervollständigen. So erfahren wir, wie in der Nacht zum 7. April – wenige Stunden nach dem Abschuss der ruandischen Präsidentenmaschine – das 700 Mann zählende Elitebataillon der ruandischen Fallschirmjäger vor seinem Kommandanten Aloys Ntabakuze antrat und den Befehl erhielt, „alle, auch Tutsi, umzubringen, die gegen die Regierung sind, und überhaupt jeden, der gegen die Regierung ist“. Vor dem Ausrücken zum Töten sei noch mal präzisiert worden, man solle „jeden umbringen, dessen Ausweis das Zeichen für die Zugehörigkeit der ethnischen Gruppe der Tutsi trug“. Bis Dienstschluss um halb vier am 7. April habe eine einzige Kompanie allein 500 Menschen umgebracht.
Ein Hauptanliegen von Melvern ist, die bis heute währende internationale Gleichgültigkeit gegenüber diesem Geschehen anzuprangern. Vor einem internationalen „Ruanda-Forum“ in London Ende März schilderte die Journalistin, wie sie überhaupt dazu kam, sich mit dem Thema zu beschäftigen: Sie hatte vertrauliche Unterlagen über die Beratungen im UN-Sicherheitsrat während des Genozids erhalten, ging damit zum Guardian, Großbritanniens führender linker Tageszeitung, und erfuhr, Ruanda sei „schon durch“. Also schreibt sie nun Bücher. Das ist gut so. Sonst gäbe es dieses Buch in Deutschland heute nicht, das unverzichtbare Hintergrundinformationen für die Geschichte des ruandischen Genozids liefert.
Linda Melvern: „Ruanda. Der Völkermord und die Beteiligung der westlichen Welt“. Diederichs/Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzingen/München 2004. 384 Seiten, 23 Euro