: „Der Antisemitismus in Osteuropa hat alte Wurzeln“, sagt Wolfgang Benz
Mit der EU-Osterweiterung rücken hartnäckige antijüdische Ressentiments näher. Der Westen darf sie nicht ignorieren
taz: Salomon Korn, der Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, hat kürzlich während der Leipziger Buchmesse gesagt, dass mit der EU-Osterweiterung eine neue Welle des Antisemitismus Europa bedrohe. Übertreibt Herr Korn?
Wolfgang Benz: Eher nicht. Antisemitismus ist in Osteuropa salonfähig und die Sorge vor dem Antisemitismus der neuen EU-Mitglieder ist berechtigt. Das hat sich in den dreizehn Jahren seit der Wende durch Äußerungen osteuropäischer Politiker reichlich bewiesen.
Manche baltischen Zeitungen sind offen antisemitisch, manche polnischen Politiker stellen sich taub. Womit hat das zu tun?
Antisemitismus dient ja immer zur schlichten Welterklärung. Damit kann man sich die Leiden in den sowjetisch besetzten und dominierten Ländern erklären. Man macht es sich einfach und sagt: Die Juden waren schuld. Denn die hätten den Kommunismus in die Welt gebracht, weil ja viele führende Kommunisten Juden gewesen seien. Das ist der gleiche Unsinn, den der CDU-Abgeordnete Martin Hohmann kürzlich verzapfte.
Seit wann dient in Osteuropa der Antisemitismus als Erklärung für gegenwärtige Missstände?
Erstaunlich ist, dass zum Beispiel in Russland, in Weißrussland und in der Ukraine der christliche Antijudaismus nach 1989 einfach wiederbelebt werden konnte – als seien 70 Jahre Kommunismus spurlos verschwunden. Dies steht in einer bestimmten Tradition der esoterisch-mystischen Welterklärung – und es ist kein Zufall, dass jetzt dort auch wieder die „Protokolle der Weisen von Zion“, ein antisemitischer Klassiker, wieder erhältlich sind. Da wird in die ganz alten Arsenale der Judenfeindschaft gegriffen. Damit sperrt man sich gegen rational-westliches Denken. Das ist eine spezifisch russische Variante, in der der Antisemitismus eine große Rolle spielt.
Und die hat in den Jahren der russischen Dominanz auf Osteuropa abgefärbt?
Nicht nur. In Polen gibt es einen autochthonen katholisch unterfütterten Antisemitismus. In den baltischen Ländern wird der Antisemitismus jetzt zum russischen Import erklärt. Aber jeder arbeitet gerne mit Schuldzuweisungen an die Juden, nur möchte man nicht den Eindruck erwecken, diese selbst erfunden zu haben.
Wer formuliert denn die öffentlichen Schuldzuweisungen an Juden?
Die orthodoxe Kirche hat nach der Wende beträchtlichen Einfluss gewonnen. Und wenn der Pope sagt, „Die Juden sind böse, weil sie Jesus ans Kreuz geschlagen haben“, dann prallt eine staatliche und schulisch betriebene Aufklärung daran ab. Die christlichen Kirchen müssen in diese Verantwortung für ein westlich demokratisches Denken mit einbezogen werden.
Wo genau sehen Sie da Verantwortlichkeiten?
Im Weltkirchenrat und in der europäisch-kirchlichen Zusammenarbeit steckt ein wesentliches Arbeitspotenzial, das genutzt werden muss. Die christlich-jüdische Verständigung hier im Westen ist eine sehr schöne Sache.
Aber die katholischen und protestantischen Amtsträger müssen dem orthodoxen Amtsbruder klarmachen, dass er diese entsetzlichen Welterklärungen, bei denen die Juden die Schuldigen an allem Weltübel sind, unterlassen muss.
Viele Osteuropäer meinen, dass Stalin schlimmer war als Hitler. Beinhaltet das Ihrer Ansicht nach eine unzulässige Relativierung des Holocaust? Oder sogar ein antisemitisches Ressentiment?
Nein, die gemeinsame Geschichtsdeutung hat damit nicht viel zu tun. Etwas überspitzt gesagt, würde ich so weit gehen und es dem Ukrainer überlassen, ob er Stalin schrecklicher als Hitler findet. Darum geht es nicht. Die antisemitischen Traditionen in Russland reichen weit bis in den Zarismus zurück, im Baltikum bis tief ins 19. Jahrhundert. Dort wurzelt die Tradition der Ausgrenzung und Schuldzuweisung, die sich an religiösen, kulturellen und sozialen Kategorien festmacht. Diese Traditionen sind völlig unabhängig von der Frage, wie man Hitler und Stalin bewertet.
Es spielt also keine Rolle, ob man der Totalitarismustheorie anhängt und Kommunismus mit dem Nationalsozialismus gleichsetzt. Oder wie immer man sich Geschichte auf simple Weise erklären mag. Wir haben es beim Antisemitismus mit einem Phänomen weit älterer Art zu tun.
Viele Juden befürchten – wie Salomon Korn –, dass der Westen diesen, wie Sie sagen, alten osteuropäischen Antisemitismus achselzuckend hinnimmt. Besteht die Gefahr, dass die europäischen Juden mit diesem Problem allein gelassen werden?
Sie haben keine Gewissheit. Aber es gibt die unbedingte Hoffnung darauf, dass sich dieses Europa als eine demokratische Völkergemeinschaft nach parlamentarisch-demokratischen, liberalen und menschenfreundlichen Spielregeln versteht.
Daher muss Antisemitismus, wo immer er auftritt, sanktioniert werden. In diesem erweiterten und vergrößerten Europa ist dies ein Auftrag der westlichen Länder gegenüber den östlichen, genau dafür zu sorgen. Aber den hier lebenden Juden kann man die Furcht, allein gelassen zu werden, nicht so ohne Weiteres nehmen. INTERVIEW:
ADRIENNE WOLTERSDORF